Leid auf hohem Niveau: John Parish und PJ Harvey.

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Wien - Öffentliche Zerfleischung war ja schon im alten Rom ein Renner beim Publikum. In der halbwegs zivilisierten Welt des Pop hält sich immerhin das Interesse an öffentlicher Selbstzerfleischung. Künstler, die nicht davor zurückscheuen, ihre emotionalen Schäden auszustellen, scheinen zumindest als Pausenfüller dauerhaft nachgefragt zu sein. Denn: Immer nur gebügelten Boy Groups beim Schöntun zuzusehen wird irgendwann auch fad. Hin und wieder ein Blick in den Abgrund - wer kann dem schon widerstehen?

Polly Jean - kurz PJ - Harvey lädt seit bald zwei Jahrzehnten zu solchen Blicken auf ihre verdunkelte Seele ein. Als Hippie-Landei auf einer Schafzüchterfarm aufgewachsen, tauchte die heute 40-jährige Britin zu Beginn der 1990er-Jahre mit Alben auf, die mit an sich selbst vollzogenen Exorzismen in eine Kerbe schlugen, die meist von männlichen Kollegen besetzt war.

Wechselstürme

Harveys formal wie inhaltlich obsessive Wechselstürme zwischen schmerzhaftem Impressionismus und galligem Expressionismus sowie offen ausformulierter Gedanken bezüglich ihrer Sexualität waren dem geneigten Publikum zuvor höchstens von der New Yorkerin Lydia Lunch bekannt gewesen. Anders als Lunch behauptet Harvey jedoch, dass bei ihr Bühnenfigur und Privatmensch definitiv nicht ident seien. Je vehementer sie darauf insistiert, desto stärker wird das allerdings auch bezweifelt.

Wie auch immer: Die zierlich bis magersüchtige Harvey vermengte auf ihren frühen Alben Blues, den sie als Kind immer gehört hatte, mit damals aktuellen Elementen aus Grunge und Punk. Mit dem derart geschaffenen Bänkelgesang erregte sie nicht nur die Aufmerksamkeit der großen Musikspürnase, des BBC-Radio-Journalisten John Peel, sondern auch jene von ähnlich orientierten Kollegen wie Nick Cave - später auch Tricky oder Mark Lanegan. Mit allen kooperierte sie im Laufe ihrer Karriere.

Mit einem anderen Langzeitbegleiter hat sie ihr neues Album "A Woman A Man Walked By" eingespielt: mit dem Gitarristen John Parish. Das erste gemeinsam verantwortete Album "Dance Hall At Louse Point" (1996) führte Parishs Namen noch vor Harveys, mittlerweile ist das umgekehrt.

Ansonsten ist vieles gleich geblieben. Seit dem für Harveys Verhältnisse euphorischen New-York-Album "Stories from the City, Stories from the Sea" (2000) scheint sie einigermaßen gefestigt. Die frühen Ausbrüche sind bereits auf dem Vorgängeralbum "White Chalk" einer stellenweise kammermusikalisch anmutenden Form gewichen, die Harvey weiterhin strapaziert. John Parish verhindert dieses Mal aber, dass sie darin erstarrt und immer wieder Ausreißer zulässt, die dem Album durchaus die Güte von Harveys Frühwerk verleihen.

Etwa mit dem wie am Indie-Rock-Reißbrett entworfenen Opener "Black Hearted Love", der wie eine unentschlossene Sonic-Youth-Nummer klingt. Oder - überzeugender - "Pig Will Not", ein unwirsch lauter Bastard aus Punk und Blues, in dem Harvey nicht nur bellt wie ein blutrünstiges Schoßhündchen, sondern mit dem insistierenden Refrain "I will not" Klartext wie mit dem Drillbohrer verdeutlicht spricht. Dazu dröhnt Parischs Gitarre, und es erinnert stark an den frühen Nick Cave.

Morbider Folk

Ansonsten herrscht ein morbider aber atmosphärenreicher Folk vor, den man in seiner hingeraunten Art auch bei Tom Waits oder Beth Gibbons von Portishead findet - geerdet oft nur von einer verloren gespielten Orgel oder verhallten Gitarren.

Kunstleid oder nicht, Harvey festigt mit "A Woman A Man Walked By" ihren Status als große dunkelgraue Chanteuse, als Tänzerin am Vulkan, der man qua Lebenserfahrung ihre Exorzismen eher abnimmt als etwa Soap & Skin, einer der gerade angesagten Erbinnen Harveys: etwa in dem Kleinod "The Soldier", vielleicht der Höhepunkt des Albums, in dem sie "Send me home damaged" fleht. Da geht die schwarze Sonne auf. (Karl Fluch, DER STANDARD/Printausgabe, 25.03.2009)