Bedrohlich surreale Bodenlosigkeit: Nikolai Gogol.

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Ein üppiger Esser, der mit nicht einmal 43 Jahren stirbt, weil er jede Nahrung verweigert. Ein mit vielen befreundeter Autor, über den seine Freunde nach seinem Tod rätseln, ob sie ihn jemals richtig gekannt haben. Ein kaum Punkt noch Komma kennender überschäumender Sprachkünstler, der Alexander Puschkin verehrte, welcher wiederum jedes Wort auf Notwendigkeit überprüfte. Ein Satiriker, der böse Karikaturen zu Papier brachte und sich am Ende einem religiösen Extremisten in die Arme warf. Ein kleiner, krumm gewachsener, dünner Schriftsteller mit schlechter Haut und einer übermäßig langen, spitzen Nase, was seinen Selbsthass befeuerte, der als alles überragender Dichter seines Landes gilt.

Nikolai Gogol, dessen Geburtstag sich am 1. April zum 200. Mal jährt, war all dies: ein Zerrissener, ein Getriebener, ein komischer Autor, dem das Lachen im Hals steckenbleibt, eine Figur, die einer seiner Grotesken entstiegen zu sein scheint. Zudem ein höchst moderner Autor, der so wie sein Zeitgenosse Edgar Allen Poe vieles vorwegnahm, was später Autoren wie Kafka, Lovecraft, Beckett zum Thema machten - Existenz als Groteske, bedrohlich surreale Bodenlosigkeit, das Ausgeliefertsein an ein nichts und niemanden befreiendes Lachen.

Zwei unterschiedliche Neuübersetzungen sind anlässlich des Bizentenariums erschienen (und für 2010 hat das Theater an der Wien die Uraufführung einer Gogol-Oper der russisch-amerikanischen Komponistin Lera Auerbach annonciert). Peter Urban, für sein Lebenswerk ausgezeichnet mit dem russischen Turgenjew-Übersetzerpreis, wählte für seine Neuübertragung der Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen eine mehr als gewöhnungsbedürftige Sprache, die, so vermutlich seine Absicht, das kanzleiartig Ungelenke, den zunehmenden Wahnsinn der Hauptfigur, eines in einer Behörde zu St. Petersburg tätigen Federkielanspitzers, widerspiegeln soll. Doch allzu oft kommt das umständlich daher, wenn sich Urban etwa für eine Wendung entscheidet, die manchmal fast zu weit vom Üblichen entfernt ist. Löblich wie bei vielen seiner Bücher ist seine editorische Sorgfalt; er fügte von der zaristischen Zensur gestrichene Sätze wieder ein, hat Anmerkungen verfasst und ein Nachwort.

All dies, Kommentare zum Text, ein Nachwort und zusätzlich eine Zeittafel, weist auch Vera Bischitzkys Neuübersetzung des Poems Tote Seelen auf. Ist dieser Roman, dessen zweiten Teil Gogol wenige Tage vor seinem Tod ins Feuer warf - das tat er übrigens auch mit einem Text zu Anfang seiner schriftstellerischen Karriere -, das Buch zur Krise? Immerhin ist es allein zwischen 1921 und 1925 mehrfach ins Deutsche übertragen worden, was nicht nur auf das Freiwerden der Rechte 70 Jahre nach dem Tod Gogols zurückzuführen ist. Ist denn nicht die Hauptfigur Akaki Akakijewitsch Tschitschikow, der „tote Seelen" aufkauft, ein satanischer Projektemacher, ein Spekulant, der aus nichts alles, was für ihn zählt - nämlich: viel, sehr viel Geld -, machen will, eine Figur der Gegenwart?

Mäandernde Sätze

Er nutzt eine verwaltungstechnische Besonderheit des russischen Reiches: Latifundienbesitzer besaßen noch bis zur erst 1863 erfolgten Bauernbefreiung Leibeigene. Verstarben diese zwischen zwei Erhebungen der Steuerbehörden, mussten trotzdem für sie Abgaben entrichtet werden. Tschitschikow ist in der Provinz unterwegs und schwatzt einer pittoresken, so lebhaft wie konkret geschilderten Galerie von Grundbesitzern ihre „toten Seelen" ab. Bischitzkys Übersetzung ist wohl die bisher beste deutsche. Sie folgt präzis den oft genug der Grammatik nicht ganz Folge leistenden mäandernden Sätzen Gogols; und findet auch schöne Entsprechungen für von ihm neu erfundene Speisen. Viele stilistische Eigenheiten sind erhalten geblieben, die in früheren Ausgaben teils redigiert, teils ersatzlos gestrichen wurden, weil sie sinnlos, ja eigenwillig bis scheinbar falsch anmuteten; wie die sprechenden Namen etwa oder eine Wendung wie "die äußere Fassade".

Erstmals ist Gogol nun exakt zu lesen und neu zu entdecken, so wie in ebenfalls philologisch korrekten jüngeren Neuübersetzungen wie Don Quijote oder Madame Bovary, Stendhals Rot und Schwarz und Dostojewskis Romane. Der Aufbau Verlag hat Georg Schwarzens Übersetzung der bekanntesten Erzählungen, unter anderem Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, Die Nase, jedes Mal von Neuem erschreckend, und Der Mantel, ein klirrend kaltes Untergangsstück, neu aufgelegt, akkompagniert von einem Nachwort des Journalisten Adam Soboczynski. Dem zu Gogols Werk wenig einfallen will. Der Fischer Verlag hingegen wertet die Eindeutschung Alexander Eliasbergs, die aus dem Jahr 1922 stammt, durch einen quasi schulischen Anhang auf.

"Puschkins Prosa hat drei Dimensionen", schrieb Vladimir Nabokov, "die Gogols mindestens vier." Und: "Gogols Kunst macht glaubhaft, dass Parallelen sich nicht nur schneiden können, sondern dass sie imstande sind, zu schlingern und sich auf höchst ausgefallene Weise zu verheddern, geradeso wie zwei Säulen, die sich im Wasser spiegeln, zu den wackligsten Verformungen fähig sind, falls das nötige Gekräusel da ist. Gogols Genie ist genau dies Gekräusel." Und Elias Canetti schloss sich der Forderung "Gogol lesen" an, denn: "Ohne Cervantes, ohne Gogol, Dostojewski, Büchner wäre ich nichts: ein Geist ohne Feuer." (Alexander Kluy/DER STANDARD, Printausgabe, 28./29. 3. 2009)