Zur Person:
Philippe Boesmans (Jg. 1936) arbeitete als Produzent beim Belgischen Rundfunk und ist als Komponist Autodidakt. 1985 bis 2007 war er Hauskomponist der Oper La Monnaie. 2000 wurde ihm der Honegger-Preis verliehen, 2004 der Musikpreis der Société des Auteurs et Compositeurs Dramatique.

Foto: DER STANDARD/Corn

Der Komponist über Schönheit und seine Zusammenarbeit mit Luc Bondy.

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Standard: Herr Boesmans, Sie wurden immer wieder als "Polystilist" angesehen. Fühlen Sie sich eigentlich in einer Zeit, da stilistisch alles möglich scheint, künstlerisch frei - oder eher das Gegenteil davon?

Boesmans: Ich sehe meine Arbeit als Komponist als einen Weg zur Freiheit an, zu einer Utopie, die man vor Augen hat und anstrebt. Ich glaube aber, dass in der zeitgenössischen Musik seit den 1950er-Jahren etwas verlorengegangen ist: der Kontakt mit jenen Dingen, die bekannt sind. Oper kann und muss auch eine Geschichte erzählen, und das kann sie nur mit Bekanntem erreichen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Dialektik von Spannung und Entspannung; ohne sie kann es keine musikalische Geschichte geben.

Standard: Sie arbeiten nicht nur mit tonalen Anklängen, sondern auch mit etlichen Bezügen zur Tradition, wenn Sie etwa Musik von Wagner, Mahler, Debussy oder Richard Strauss in Erinnerung rufen.

Boesmans: Wenn man eine Oper schreibt, darf die Musik nicht völlig abstrakt sein, sie hat eher etwas zu illustrieren und anschaulich zu machen. Dann kann sie auch etwas erzählen, was nicht im Libretto steht, das Unausgesprochene oder eine Lüge. Das Wichtigste ist, dass ein Zusammenhang zwischen Handlung und Musik besteht. Wenn zum Beispiel jemand hinfällt, hört man das auch, aber nicht unbedingt gleichzeitig. Dadurch entsteht ein gewisser Spielraum, um Redundanz zu vermeiden, und so etwas wie Polyphonie zwischen Musik und Theater.

Standard: Wie haben Sie sich in Ihrer neuen Oper nach dem Theaterstück von Witold Gombrowicz der Figur der Yvonne angenähert? Es handelt sich ja um eine fast stumme Rolle, die nur wenige Worte spricht und auch bei Ihnen nie singt.

Boesmans: Es war natürlich eine Herausforderung, diese zentrale Rolle im Stück mit einer Schauspielerin zu besetzen. Ich habe für sie ein Leitmotiv eingesetzt: Immer wenn sie auf die Bühne kommt, erklingt dieselbe Musik, aber immer in einer anderen Farbe und mit einer anderen Spannung. Ich glaube, gerade weil Yvonne hässlich ist oder so erscheint, darf man keine hässliche Musik für sie machen. Das wäre viel zu einfach. Im Gegenteil: Wenn sie schweigt, soll die Musik schön und faszinierend klingen, sie bekommt etwas Mystisches, fast wie eine Aureole. Der Prinz sagt ja auch zu ihr: "Wie schön schweigen Sie!"

Standard: Dieser Prinz - zufällig heißt er auch Philipp - ist auch der Einzige, der sich gegenüber Yvonne anders verhält als König, Königin und der ganze Hofstaat: Er möchte sie ehelichen.

Boesmans: Der Prinz fordert seine Freiheit gegenüber seinen Eltern ein, ist aber auch von ihr fasziniert. Es ist jedoch Yvonne, die eigentlich die Macht hat, die anderen an der Nase herumführt und manipuliert. Deswegen wird sie auch zum Sündenbock und muss ermordet werden. Gombrowicz wollte aber nicht moralisieren, sondern er zeigt etwas auf. Ich habe versucht, das Stück wirklich tief zu verstehen, und glaube, es geht darum, dass das Hässliche von Yvonne vor allem in den anderen präsent ist. Das war das Hauptthema, das ich versucht habe umzusetzen.

Standard: Indem Sie Karikaturen dieser anderen Figuren zeichnen?

Boesmans: Schon Gombrowicz hat gesagt, dass er das Innenleben der Figuren übertrieben darstellen wollte. In einer Oper ist das auf jeden Fall der Fall. Bei Yvonne war es für mich interessant, dass die Figuren Archetypen sind: Der König ist ein skrupelloser Despot, die Königin eine besitzergreifende Mutter, der Prinz kapriziös und launisch, der Kammerherr schmierig und unterwürfig. Alles, was man da sieht, kennt man von irgendwo.

Standard: Sie und Luc Bondy, der wie schon bei Ihren früheren Opern das Libretto gemacht hat und auch Regie führt, sind bereits ein eingespieltes Team. Wie kann man sich Ihre Zusammenarbeit vorstellen?

Boesmans: Wenn wir gemeinsam ein Projekt planen, unternehmen wir oft eine Reise. Währenddessen arbeiten wir überhaupt nicht, aber wir sprechen über alles Mögliche. Erst am letzten Tag notiert Luc dann einige Sätze für das Konzept. Ich komponiere zwar am liebsten von Anfang bis Ende durch, aber es ist möglich, dass er dann mittendrin anruft und neue Ideen hat. Bei Yvonne hatte ich schon mit dem letzten Akt begonnen, als Luc meinte: "Warum machen wir nicht am Ende ein Lacrimosa?"

Standard: Diese Passage wirkt so, als hätten Yvonnes Mörder - anders als im Theaterstück, wo das Leben einfach weitergeht - doch noch Mitleid mit ihr. War das Ihre Absicht?

Boesmans: Das weiß ich nicht. Aber ich habe versucht, den Eindruck wie bei einer Heiligen zu vermitteln, einer Fremden, die eine große Einsamkeit ausstrahlt und von fern herkommt. Deshalb hat ihre Musik auch ihre ganz eigene Zeit.

(Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe, 09./10.05.2009)