Eine zart Besaitete zwischen zwei Männern: Elisabeth Bergner und ihr Leinwand- Geliebter Raymond Massey in Paul Czinners Eigenremake "Dreaming Lips" (1937).

 

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Wien - Gleich der erste Auftritt der neuen Attraktion sorgt im mondänen Londoner Nachtklub "Piccadilly" für Aufsehen. Nicht nur auf dem paillettenbesetzten Kostümchen der Chinesin, die sich da wiegt und windet, blitzen unzählige Lichtreflexe. Der ganze Saal und das Publikum wird von schimmernden bewegten Lichtpunkten überzogen. Dafür sorgen vier verspiegelte Kugeln, die sich am Bühnenboden um die Neo-Tänzerin Shosho (Anna Mae Wong) drehen.

Ob E. A. Duponts beklemmendes Backstage-Drama Piccadilly (1929) zur nachmaligen Verbreitung besagter Effektgeräte, die später Discokugeln heißen sollten, beigetragen hat, ist nicht bekannt. Ganz sicher tut dies der großartigen Wirkung dieser Sequenz - und des restlichen Films - keinen Abbruch.

Der Entwurf des Gesamterscheinungsbildes stammt von einem gewissen Alfred Junge: Der aus Deutschland gebürtige Bühnenbildner entwarf zunächst die Dekorationen für Produktionen der Ufa, schon dort arbeitete er mit dem Regisseur Dupont zusammen. In den 30er-Jahren prägten Junges Art-Deco-Sets nicht nur britische Musicals wie Evergreen (mit der famos gelenkigen Jessie Matthews). Unter anderem war er maßgeblich für das Erscheinungsbild etlicher Filme von Michael Powell und Emeric Pressburger verantwortlich. Für ihr Black Narcissus (1947) wurde er mit einem Oscar ausgezeichnet.

In der Retrospektive "Destination London" steht Junge noch für jenen freizügigen Austausch von Kreativen, der in den 1920er-Jahren in beide Richtungen ging, wie etwa Alfred Hitchcocks "Lehrzeit" bei der Ufa belegt. Spätestens ab 1933 - als die Nationalsozialisten begannen, alle nicht genehmen Personengruppen systematisch von der Berufsausübung auszuschließen - fungierte die britische Filmindustrie jedoch explizit als Zufluchtsort. Insgesamt waren in den 30er- und 40er-Jahren über 400 Filmschaffende, vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum, in Großbritannien tätig.

Destination London, vom Wiener Filmhistoriker Christian Cargnelli kuratiert, stellt das Wirken dieser Exilanten nun anhand von rund dreißig Arbeiten vor. Die Retrospektive erinnert an bekannte Leinwandstars wie die Wienerin Elisabeth Bergner, an Anton Walbrook (Adolf Wohlbrück) oder Dolly Haas, Conrad Veidt und Fritz Kortner. An Regisseure wie Ludwig Berger und Paul Czinner, aber auch an heute weniger geläufige Filmarbeiter wie die Drehbuchautorin Anna Gmeyner, die Kameraleute Eugen Schüfftan, Wolf Suschitzky oder Werner Brandes, der bei Piccadilly für die wiederkehrenden, gewichtigen Schwenks sorgte, und viele andere mehr.

Rastlose Seelen

Nicht immer wird die Erfahrung von Verfolgung und Flucht in den gezeigten Filmen so konkret verhandelt wie in der ungewöhnlichen Geistergeschichte Thunder Rock (1942), an der Gmeyner mitschrieb: Ein Journalist, desillusioniert vom vergeblichen Kampf gegen den aufkommenden Faschismus, lebt abgeschieden in einem Leuchtturm. Eines Nachts wird er mit den rastlosen Seelen von Ertrunkenen konfrontiert. Alle waren gezwungen, ihre alte Heimat zu verlassen. Nun motivieren sie den Weltabgewandten dazu, sein Engagement wieder aufzunehmen.

"Destination London" war ursprünglich ein Forschungsprojekt über deutschsprachige Filmexilanten an der University of Southampton. Bei der Retrospektive, die auch dem künstlerischen Einfluss der Exilanten nachgeht, wurde nun auch eine Publikation vorgestellt. Die Herausgeber, Tim Bergfelder und Cargnelli, sowie Autorin Sarah Street begleiten die sehenswerte Filmreihe derzeit mit Vorträgen. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.5.2009)