Aufbruch aus dem Dorf in die große Welt: Wassili Schukschins "Reisebe-kanntschaf-ten" (1973).

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Wien - Die Sowjetunion hat insgesamt keine gute Nachrede. Wer heute an das kommunistische Gemeinwesen auf dem riesigen russischen Territorium samt der angeschlossenen Teilrepubliken denkt, wird eher den Archipel Gulag erwähnen als erfolgreiche Fünfjahrespläne, und Genosse Breschnew, der von 1964 bis 1982 der KPdSU und damit dem Staat vorsaß, gilt nicht als politisches Genie. Genau aus dieser Epoche aber, in der die Welt sich mit der Teilung in zwei rivalisierende Systeme arrangieren zu wollen schien, stammt das Werk des sowjetischen Filmemachers Wassili Schukschin, das selbst der düsteren Ära Breschnew noch eine Menge abzugewinnen weiß.

Das Filmmuseum zeigt jetzt in Koproduktion mit den Wiener Festwochen (zu sehen war das Schauspiel Schukschins Erzählungen von Alvis Hermanis) fünf Arbeiten des 1974 im Alter von 45 Jahren verstorbenen Volkskünstlers und gibt damit Gelegenheit, einen raren Einblick in diese nicht eben dicht überlieferte Periode des sowjetischen Kinos zu nehmen.

Schukschin stammte aus dem Altai, einer Gebirgslandschaft an der südöstlichen russischen Peripherie, die für ihr Schönheit gerühmt wird. Die Verbundenheit mit dem Land ist eine wesentliche Voraussetzung seines Werks. In Roter Holunder (1974) stapft der eben aus der Haft entlassene Jegor "Pechkopf" von der Straße in den Wald und begrüßt, noch vor seiner Freundin Ljuba, ein paar Birken.

Er umarmt die Bäume mit einer Zärtlichkeit, die er für die Frau später kaum aufzubringen vermag, weil er ein ständiges Unbehagen mit sich herumzutragen scheint. Es ist nicht übertrieben, in diesem Unbehagen die Form zu sehen, in der Schukschin die Systemfrage stellte. Denn der Kommunismus hatte für das ganze Land einen Plan, für alle Menschen war ein Ort und eine Tätigkeit vorgesehen, und die Reserve, die fast alle Helden in diesen Filmen auszeichnet, ist bei strengem Blick schon subversiv.

Es lebt da so ein Bursche hieß 1964 Schukschins erster Film, im Westen wurden damals die ersten Halbstarken seriös, in der UdSSR tauchte da ein Taugenichts aus dem Tauwetter auf, als es gerade wieder kälter zu werden begann. Später spielte Schukschin diese nie ganz erwachsen gewordenen Männer selber, mit rauer Sensibilität, die an Jean-Louis Trintignant denken lässt oder an Harvey Keitel.

In Reisebekanntschaften (1973) spielt er den Bauern Vanya, der mit seiner Frau eine große Zugreise in ein Sanatorium im Süden antritt. Es ist sein erster Schritt aus dem Dorf in die große Welt, und nach allerlei Zufällen trifft es sich so, dass er in Moskau in der Vorlesung eines großen Linguisten auftritt - er ist Anschauungsmaterial geworden. Diese falsche Objektivität, auf die der Kommunismus sich so viel einbildete, bricht sich bei Schukschin in einer großen Freiheit der Form. Er wechselt in Reisebekanntschaften häufig zwischen Volksmusik und Soundtrack, er zeigt die Menschen manchmal ganz intim, dann aber wieder von außen durch das Zugfenster wie hinter einer Trennscheibe, die das Kino von der Kultur der einfachen Leute trennt.

Arbeit der Einordnung

Der Traum vom einfachen Leben aus den reichen Ressourcen des Landes ist in Schukschins Filmen noch ganz gegenwärtig, aber die Sowjetlandwirtschaft beruht auf Mechanisierung, mit jeder neuen Maßnahme wird die Bevölkerung näher an die Rekordjagd der "Helden der sozialistischen Arbeit" herangeführt. Der Traktorist "Pechkopf" muss sich gegen die Vorurteile einer Clique durchsetzen, die ihn an seinem "Proletenschritt" als Außenseiter erkennen will.

Schukschin romantisiert dabei die Bevölkerung nicht, er macht nur zu deutlich, dass das Sowjetregime eine ständige Arbeit der Einordnung mit sich brachte, eine Ungewissheit darüber, wo die Macht gerade genau ist. (Beim Milizionär? Beim Schaffner? Bei der Bibliothekarin?) "Früher wurde unser Staat nur durch Gottesfurcht zusammengehalten", heißt es in Reisebekanntschaften. Schukschins Werk sucht nach Momenten, in denen es keine Instanz gibt, die zu fürchten ist. Sie sind so rar, wie diese Filme kostbar sind. (Bert Rebhandl, DER STANDARD/Printausgabe, 23./24.05.2009)

Bis 1. Juni