Bernhard Fuchs vom Institut für Europäische Ethnologie an der Universität Wien beschäftigt sich unter anderem mit Arbeitsmigration am Beispiel der südasiatischen Einwanderer in Wien.

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Er habe Sorge, dass die indische Gemeinschaft in Wien Ziel fremdenfeindlicher Angriffe werden könnte, sagte er zu Gudrun Springer.

STANDARD: Sie beobachten seit den Achtzigerjahren die Sikhs in Wien. Welcher Konflikt steckt hinter dem Angriff von Sonntag. War der Zwischenfall absehbar?

Fuchs: Ich war sehr überrascht und schockiert über den Zwischenfall. Ich kenne zwei Sikh-Tempel in Wien, im 22. und im 12. Bezirk. Jenes Gebetshaus im 15. Bezirk, wo der Angriff passiert ist, habe ich nie besucht. Die Mitglieder dieser Sekte verehren Ravi Dass, einen Zeitgenossen von Guru Nanak, dem Gründer der Sikh-Religion. Ravi Dass wird von orthodoxen Sikhs nicht als Guru anerkannt, seine Hymnen wurden aber in das Heilige Buch der Sikhs aufgenommen. Die unklare Position der Ravi Dassis zwischen Hinduismus und Sikhs erregt Ärger bei orthodoxen Sikhs. Die Sikh-Orthodoxie verbietet die Verehrung lebender Gurus. Dass Nichtorthodoxe aus dem Heiligen Buch der Sikhs vorlesen, wird von Fanatikern als Beleidigung empfunden. Ravi Dassis rekrutieren vor allem Unberührbare (Mitglieder der untersten Kaste, Anm.) als Anhänger. Das Kastenwesen wird im Sikhismus zwar offiziell abgelehnt, es ist in Indien aber so stark, dass sich trotzdem separate Gruppierungen nach Kasten entwickelt haben. In Indien gibt es deshalb immer wieder Zwischenfälle, in Wien hätte ich nicht damit gerechnet.

STANDARD: Gab es in den vergangenen Jahren in Wien vergleichbare gewaltsame Konflikte zwischen Sikhs und Ravi Dassis?

Fuchs: In den Achtzigern gab es separatistische Bewegungen der Sikhs, aber hier in Wien kam es eigentlich nicht zu Spannungen. Ich denke, bei den Angreifern von Sonntag handelt es sich um einzelne Fanatiker. Es ist wichtig, dass jetzt ein Zeichen gesetzt wird und sich die Vertreter der Gruppierungen davon distanzieren. Dafür hat es auch bereits Gespräche gegeben. Es besteht sonst, abgesehen von einer Eskalation des Konflikts, die Gefahr, Ziel fremdenfeindlicher Attacken zu werden. Dieser Zwischenfall hat dem Ruf der indischen Gemeinde in Wien sehr geschadet.

STANDARD: Die Angreifer sollen gelb-blaue Turbans getragen haben. Was hat es mit diesen Farben auf sich?

Fuchs: Safran, blau und weiß gelten als heilige Farben im Sikhismus. Auch die separatistisch motivierten Sikhs haben diese getragen. Turbane sind ein auffallendes Zeichen der Sikhs, aber nicht alle, die einen Tempel besuchen, tragen sie auch. Nach den Anschlägen von 9/11 wurden viele Sikhs mit Turbanen als "Osama" beschimpft.

STANDARD: Warum sind unter den Zeitungskolporteuren in Wien so viele Sikhs?

Fuchs: Als es in den Achtzigern im indischen Bundesstaat Punjab zu Unruhen kam, gab es von dort eine starke Einwanderungswelle nach Österreich. Viele kamen als Zeitungskolporteure, weil eine Sonderregelung galt, für die sich vor allem Krone und Kurier stark machten: Zeitungskolporteure bekamen Unternehmerstatus und konnten leichter einwandern. Dass unter den Indern viele Sikhs waren, liegt daran, dass die Sikhs in der Diaspora generell stärker repräsentiert sind und in den Achtzigern, als es Bestrebungen für einen eigenen Staat für Sikhs gab, staatlicher Gegenterror herrschte. Nach der Ermordung Indira Gandhis durch einen Sikh gab es auch Anti-Sikh-Pogrome. (Gudrun Springer/DER STANDARD-Printausgabe, 26.5.2009)