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Grenzübergreifende Geheimnisse: Adolf Muschg.

Foto: APA/EPA

Wien - Kunst, schrieb Adolf Muschg einmal, sei, "vom Verlorenen so zu handeln, als wäre es immer noch die Möglichkeit: als käme es von vorne, eine Verheißung, wieder auf dich zu". Kunst hat für Muschg, der vor zwei Wochen seinen 75. Geburtstag feierte, allerdings immer auch mit Lebenskunst zu tun - und damit, die richtigen Fragen zu stellen. Nach dem "rechten Leben" etwa, dem "Einen, das not tut". Aber auch über das Verhalten der Schweiz im zweiten Weltkrieg und den Aufstieg Christoph Blochers hat sich der überzeugte Europäer Muschg öffentlich die eine oder andere Frage erlaubt, was in seinem Heimatland nicht immer gut ankam. Es gab Zeiten, in denen er in Zeitungsinseraten beschimpft wurde und Fäkalien per Post ins Haus geliefert bekam.

Schatten des Weltkriegs

Ein unversöhnlicher Autor ist Muschg, der 1965 mit einem Japan-Roman debütierte, Literaturprofessor und Präsident der Berliner Akademie der Künste war, früh schon gewesen - und geblieben. Zahlreiche Romane, Erzählbände und Theaterstücke hat der "Provokateur mit Grazie", wie ihn die FAZ einmal nannte, im Suhrkamp-Verlag, den er heuer nach Meinungsverschiedenheiten mit der Verlegerin verließ, um zu Beck zu wechseln, geschrieben. Mit Kinderhochzeit legt Muschg nun, zum letzten Mal bei Suhrkamp, einen dicken Roman mit nicht unexplosivem Thema vor.

Ein 40-jähriger ehemaliger Schweizer Berufsoffizier, gescheiterter Ehemann und angehender Historiker, Klaus Marbach sein Name, ist die Hauptfigur des Buches. Nach seiner Tätigkeit für die Bergier-Kommission, die sich in den Jahren 1996 bis 2001 mit dem "nachrichtenlosen" Vermögen aus dem Zweiten Weltkrieg und der Schweizer Neutralitätspolitik auseinandersetzte, entschließt sich Marbach, seine Recherchen fortzusetzen. Und zwar im süddeutschen Grenzstädtchen Nieburg, das seit jeher politisch und wirtschaftlich eng mit dem auf der anderen Rheinseite gelegenen Schweizer Nieburg (Vorbild ist das reale Rheinfelden) verflochten ist. Vor allem das Aluminiumwerk, das im Krieg nicht bombardiert wurde und in dem viel Schweizer Kapital und Arbeitskraft steckt, interessiert ihn. Im Verlauf des Romans werden die grenzübergreifenden Machenschaften im und nach dem Krieg zunehmend zu einer Verwicklung Marbachs in die eigene Lebensgeschichte, wobei die Liebe, der Sohn eines SS-Mannes und dessen Frau Imogen, die Erbin des Aluminiumimperiums, tragende Rollen spielen.

Um den historischen Kern der Geschichte hat Muschg einen komplexen Erzählkosmos mit unzähligen Anspielungen geschaffen, in dem auch Motive wie Vaterlosigkeit, Sterbehilfe und eine Ehre, die Treue heißt, verhandelt werden.

Im Zentrum des Buches aber steht ein Mann, der aufbricht, ein Geheimnis zu lüften, und am Schluss vor sich selber steht. Seine Frau hatte Marbach einst nahegelegt, "...das, was er nicht hatte, dahingestellt sein zu lassen und das Leben nicht als Laufbahn zu verstehen, sondern als Gewinn von Tag zu Tag zu Tag". Nicht der schlechteste Rat.  (Stefan Gmünder/DER STANDARD, Printausgabe, 27. 5. 2009)