Der Vater (Sergio Scarlatella) verfolgt den Sohn bis in die Träume. Durch ein Bullauge blickt er in Romeo Castelluccis Dante-Neuschöpfung "Purgatorio" in den Zuschauerraum.

Photo: LUCA DEL PIA

Suggestive Traumsequenzen retten den Abend vor dem vollendeten Klischee.


Wien - Nach neun Jahren ist Romeo Castellucci wieder Gast bei den Wiener Festwochen. Der Theatermacher aus Cesena, der sein Wissen über Kunst und Landwirtschaft (beides hat er studiert) in seinen ingeniösen Arbeiten gern unter einen Hut bringt, hat sein Talent für großformatige Abende in Dantes Göttliche Komödie investiert.

Anlässlich der Premiere der Trilogie in Avignon 2008 ging dabei ein Klavier in Flammen auf, attackierten Schäferhunde einen Darsteller, und einer kletterte bei brausendem Abendwind über die Fassade des Papstpalastes. Von den drei Teilen des mittelalterlichen Versgedichts - Inferno, Purgatorio und Paradiso - hat Schauspielchefin Stefanie Carp lediglich den mittleren zu den Festwochen geholt, jenen, der sich mit großem technischen Aufwand, aber ohne feuerpolizeiliche Risiken gut ins Theater an der Wien fügte.

In Castelluccis Purgatorio bleibt vom Fegefeuer, in dem die Seelen von ihrer Schuld freizukommen suchen, nur mehr das Motiv erhalten. Erzählt wird vom häusli- chen (vermutlich sexuellen) Missbrauch in einer Familie, durch den der Vater (wie auch die duldende Mutter) Schuld auf sich lädt. Die Pilgerfahrt durch das Reich des Jenseits bei Dante verkürzt sich bei Castellucci im ersten Teil auf bedächtig beschrittene Wege durch das großzügige Eigenheim.

Verwischter Blick

In hoher technischer Fertigkeit schachtelt sich dieser Ort des Verbrechens in dunkle, weite Räume auf, deren klaustrophobische, angsterfüllte Atmosphäre sich zu Beginn vor allem in Geräuschen ausdrückt. Wie die Tonspur eines Films begleiten Messerschnitte durch den Schnittlauch oder das Knacken beim Tablettenherausdrücken aus der Aluverpackung die Bewegungen von Mutter (Irena Radmanovic) und Sohn (Pier Paolo Zimmermann).

Der Blick auf die häusliche Szene bleibt verwischt - durch einen am Bühnenportal gespannten Gazevorhang, der das Geschehen fast filmisch entrückt - und hier die deutliche Nähe zu David Lynch anzeigt.

Das Warten auf den Vater, den Täter: Diese Albtraumsequenz verspielt ihre Energie aber leider am vollkommenen und bald langweiligen Klischee. Ein überarbeiteter Manager (Sergio Scarlatella) kommt von der Dienstreise nach Hause, seine Frau empfängt ihn in überdehnten, fast zeitlupenartigen Szenen mit Kuss und frischem Essen im mondänen Wohnsalon, Marke Hollywood, 1970er-Jahre (Bühne, Licht, Kostüme: Castellucci). Sie gießt ihm Whiskey ein, er dreht den Fernseher auf: großbürgerlicher Haushalt, klassische Rollenbilder, leere Alltagsphrasen.

Die Kette von Stereotypen durchbricht Castellucci - und daran hat er im ersten Teil zu sehr gespart - mit wenigen surrealen Momenten, die die realistische Abbildung kommentieren. So "wächst" beispielsweise der Spielzeugroboter des Knaben in einer fast zur Gänze verdunkelten Traumfantasie zur riesengroßen, bis zur Decke reichenden Beschützerfigur an.

Solche ins Horrorfach reichende Verschiebungen von Realität sind die eigentliche Stärke Castelluccis. In Österreich hat er sie zuletzt beim Steirischen Herbst 2007 mit Hey Girl! unter Beweis gestellt. Und davon hätte dieses 80-minütige Purgatorio noch mehr gebraucht. Die Gewalttat selbst vermittelt Castellucci als ein minutenlang aus der Entfernung hörbares Knäuel an brutalen Geräuschen und Stimmen, die der US-amerikanische Musiker Scott Gibbon generiert hat. Seine Musik ist konstitutiv in Castelluccis suggestiven, bildnerischen Entwürfen, die hier erst im zweiten Teil zum Tragen kommen.

Blumen des Bösen

Der Abend konfrontiert die konkrete Welt der Sünde, in der sich der Vater am Sohn vergeht, im zweiten Teil mit enigmatischen Innenansichten. Durch ein bühnengroßes Bullauge (es könnte aus dem als Versteck benützten Kleiderschrank gerichtet sein) betrachtet das geschändete Kind eine vorbeiziehende Welt von bedrohlich wuchernden Gewächsen, sexuell konnotierten Fantasiepflanzen, riesenhaften Blumen des Bösen, durch deren Dickicht sich der Vater drängt. Da kommt Castellucci der von reichlich Symbolen begleiteten Wanderung durch das Fegefeuer vielleicht am allernächsten.

Er lenkt von diesen Fantasiebildern aber wieder zurück in die Realität, in der nun der Sohn zum "erwachsenen" (zwei Meter großen) Buben (Davide Savorani), der Vater zum körperlich behinderten Mann (Juri Roverato) geworden ist. Ihr Aufeinandertreffen bleibt gewalttätig, aber offen. Der Blick auf sie verfinstert sich allmählich - und man wäre in diesem Moment nun sehr gespannt auf Paradiso. Man hat von ihm schon überzeugendere Arbeiten gesehen. (Margarete Affenzeller / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.5.2009)