Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte
von Thomas Rottenberg

Es war neulich. Da äußerte C. einen Verdacht. Und je länger und genauer wir seither den Bettlern zusehen, umso weniger absurd klingt das, was C. ursprünglich expressis verbis selbst „übersteigerte Verschwörungstheorie" genannt hatte. Denn wo wir auch hinschauen: Ganz ganz selten findet man Menschen, die jenen Bettlern, die die Tische in Wiens Gastgartenmeilen immer häufiger und intensiver belagern, tatsächlich Geld geben.

C. hatte ihr Leid geklagt, nicht mehr zu wissen, was sie tun solle. Als direkte Naschmarkt-Anrainerin erlebe sie nicht nur die Bettelei an und zwischen den Tischen aus nächster Nähe mit, sondern fühle sich manchmal wie in jener Buchszene des „Glöckners von Notre Dame", in der all die Bettler und Gaukler in Pariser Hinterhöfen ihre Krücken fallen lassen - und den Capos den Erlös des Tages übergeben müssen.

Seitengasse

Ihr Haus in einer kleinen Seitengasse verfüge über keine Gegensprechanlage. Es werde deshalb insbesondere von Bettelkindern gern als Rückzugsort - und der Hof oft auch als Toilette - benutzt. Und so wie im „Glöckner", sagte C., schätzen organisierte Bettler es nicht, von Fremden behelligt zu werden. Egal, ob sie zum Betteln gezwungen werden oder nicht. Und egal, ob diese „Fremden" lediglich durch den Hof in ihre Wohnungen gelangen wollen.

Neulich, erzählte C., habe eines der Kinder im Hauseingang ihre Tochter bedrängt. Die Kinder, sagte C., seien zwar in etwa gleich alt gewesen, aber vieles von dem, was der Knabe, der da die Schülerin recht aggressiv um Geld „gebeten" habe, wohl schon hinter sich hätte, würde ihre Tochter hoffentlich nie erleben müssen. Und bei allem Mitleid für den Bettlerbuben, sagte C., gehe bei ihr der Schutz der eigenen Tochter dann eben doch vor. Doch als sie den Burschen wegschicken wollte, habe der zuerst ein paar obszöne und danach eindeutig bedrohliche Gesten gemacht. Und sie nur ausgelacht.

Keine Hilfe

Die Polizei zu raufen, sagte C., brächte nichts: Die könne auch nicht überall sein. Und an die Problemlöskompetenz der Politik glaube sie ohnehin schon lange nicht mehr: Für die, die bei ihr keinen Brechreiz auslösen, sei nämlich jeder, der sich fürchte, im besten Fall paranoid. Denn wer es wagt, zuzugeben, dass es irgendwann einfach unerträglich wird, wenn sich alle drei Minuten ein bettelnder Arm über den Kaffeehaustisch streckt, habe sowieso jede Chance verloren, von aufgeklärten Mitmenschen nicht schief angeschaut zu werden. Mindestens.

Zumindest, meinte C., solange andere aufgeklärte Mitmenschen zusehen. Ohne liberal wirkende Augenzeugen wachelt nämlich auch der sonst gütigste Gutmensch irgendwann nur noch mit einem genervten Knurren das sechste Bettlermädchen-mit-kleiner-Schwester-am-Arm dieser halben Stunde weg. Oder winkt dem Kellner zu, doch bitte einzugreifen. Damit man sich selbst nicht die Hände - und auch das Gewissen - dreckig macht: Denn zuzugeben, dass man die Massierung der Bettler in manchen Ecken der Stadt mittlerweile als Pest (C. sagte, sie wähle dieses Wort hier ganz bewusst) empfände, wäre ja politisch unkorrekt, wie sonst kaum etwas.

Die These

Deshalb hatte C. dann auch ihre Verschwörerthese geschmiedet: Wenn sich alle fürchten, ein Problem Problem zu nennen, obwohl sie es so empfinden, wäre es doch nur logisch, dass der, einzige, der keinen Genierer hat, daraus aufs Unappetitlichste Kapital zu schlagen, alles dafür tut, dass möglichst viele Menschen genervt sind. Denn wenn den Bettlern wirklich so wenige Menschen Geld geben, wie es den Anschein hat, müssten sie - also wohl eher ihre Schlepper und Hinterleute - anderswo Geld oder Boni für den „Einsatz" ihres „Menschenmaterials" bekommen. Und wer, fragte C., profitiere am meisten davon, wenn sie und andere sich einerseits bedrängt, andererseits aber auch alleingelassen fühlen? Bingo.

Wir lachten. C. lachte auch. Doch am nächsten Tag flatterte eine der üblichen OTS-Aussendungen der Unerträglichen herein. Und irgendwie machte das, was C. tags zuvor „übersteigerte Verschwörungstheorie" genannt hatte, plötzlich beinahe Sinn. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 29. Mai 2009)