Markante Filmbilder einer untergehenden Welt.

Foto: Stadtkino

Wien - Der alte Mann sitzt unbeweglich am Küchentisch. Der Blick seiner hellen Augen scheint bereits mehr nach Innen als zu seinem Gegenüber gewandt. Zuerst hört er gar nicht, was man ihn fragt. Viel hat er ohnehin nicht mehr zu sagen. Einige Zeit vorher im Film hat er bereits sachte das Ende ausgerufen. Seinen Schafbestand musste er schon reduzieren. Der Körper macht nicht mehr mit. Bald, so erfährt man aus dem Off, wird der Mann, der sein ganzes Leben lang Schäfer war, nicht mehr die Kraft haben, das Haus zu verlassen.

Die Szene gehört zum Anrührendsten, was im Kino seit langem zu sehen war. Sie ist Teil von Raymond Depardons Dokumentarfilm Neue Zeiten - La vie moderne und zugleich auch Teil eines größeren Projekts: "Die Szene, in der Marcel ,es ist aus' sagt, ist nur möglich, weil wir uns seit 15 Jahren kennen, weil wir zehn Jahre miteinander gedreht haben und weil wir immer die Kamera dabei hatten. Häufig haben wir gar nicht gefilmt, aber die Kamera war immer präsent, damit sie, wenn wir dann filmten, nicht wie ein Fremdkörper wirkte."

Der bald 67-jährige Depardon, der selbst von einem Bauernhof im Sâone-Tal kommt, ist Ende der 1990er in jene Gegend und zu jenen Leuten zurückgekehrt, die er rund eine Dekade vorher im Zuge einer Fotoreportage porträtierte. Die (Wieder-)Annäherung mit der Filmkamera veröffentlichte er 2000 mit Profils paysans: L'approche. 2005 folgte Le quotidien, der Alltag. Nunmehr beschließt La vie moderne (Neue Zeiten), gedreht auf 35mm und im Breitwandformat, diese Langzeitbeobachtung.

Der Titel ist trügerisch: Der Optimismus, den man mit dem Neuen, Modernen assoziieren möchte, ist im Film einer leisen Melancholie gewichen. Wurden im vorigen Teil noch vorsichtig Pläne geschmiedet, neue Existenzen gegründet oder verhalten kämpferische Töne angeschlagen, so scheint es nunmehr, als ob diese Art von Landwirtschaft, die kleinen Familienbetriebe in den mittleren (Hang-)Lagen, unwiederbringlich zu Ende geht.

Die betagten Bauern und Bäuerinnen, die Brüder Privat oder das Ehepaar Challaye, müssen nach und nach die Arbeit einstellen, ihre letzten Tiere verkaufen. Ihre Renten sind lausig, ihre Höfe werden möglicherweise bald nur noch als Zweitwohnsitze von Städtern genutzt. Aber selbst dort, wo es noch jüngere Nachfolger gibt, können diese nur unter schwierigen Bedingungen überleben. Die Kinder wären diesem Beruf nicht immer abgeneigt, aber die Eltern sind skeptisch, ob es ihn in ein paar Jahren überhaupt noch geben wird.

All das erfährt man bei Depardon auch diesmal in langen, unbewegten Aufnahmen am Küchentisch. In Unterhaltungen, in denen die Pausen mit ebenso viel Bedacht und Eigensinn gesetzt werden wie die Sätze. Der Regisseur fungiert als dezenter Animateur dieser Gespräche. Über den Zeitraum eines Jahres besucht er seine wechselnden Gegenüber, beobachtet und dokumentiert die Arbeitsroutinen, die ganz zu den Menschen, den Körpern und Händen, welche sie ausführen, gehören.

Dazwischen montiert Depardon seine Fahrten über Gebirgsstraßen: "Am Anfang gibt es diese Straßen, an ihrem Ende sind die Bauernhöfe; ich komme gern zurück, weil ich mit der Zeit das Vertrauen dieser Leute gewonnen habe", heißt es aus dem Off. Den ganzen Film über geht der Blick beim Fahren nach vorne, ganz am Ende fällt er durch die Heckscheibe zurück. Vielleicht ist La vie moderne auch deshalb so wehmütig, weil hier einer nicht nur von manchen Menschen, sondern auch von einem Herzensprojekt Abschied nimmt. (Isabella Reicher, DER STANDARD/Printausgabe 15.6.2009)

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