Das Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts zum EU-Vertrag von Lissabon kam nicht ganz unerwartet. Experten haben schon lange darauf hingewiesen, dass es im innerdeutschen Kräfteverhältnis zwischen Regierung, Parlament und Ländern zu Anpassungen kommen müsse.

Das haben die Höchstrichter in Karlsruhe nun klargestellt. Vereinfacht gesagt könnte man ihre Expertise auf die Formel bringen: Je mehr substanzielle Integration es auf europäischer Ebene gibt, je mehr (bisherige) innenpolitische Entscheidungen in Richtung der EU-Institutionen in Brüssel, Straßburg, Luxemburg etc. verlagert werden, desto deutlicher muss die parlamentarische Mitsprache im föderalen Deutschland abgesichert werden. Das gilt auch anderswo.

Nur insofern hat Angela Merkel recht, wenn sie knapp kommentierte, dass dies „ein guter Tag für den Lissabonner Vertrag" sei. Für die deutsche Kanzlerin selbst war es eher ein schlechter Tag. Ihre Regierung wurde von den Verfassungshütern quasi vorgeführt. Wer mitten in einem Wahlkampf im Schnellverfahren derart wichtige Gesetze durch den Bundestag peitschen muss, damit der europäische Fahrplan nicht noch mehr durcheinanderkommt als ohnehin schon, der muss sich zumindest Säumigkeit vorwerfen lassen. Kein schönes Bild, das das „EU-Musterland" da abgibt. Was hat die große Koalition in Berlin bisher daran gehindert, von sich aus tätig zu werden, noch vor den Richtern?

Der zweite wichtige Schluss, den der Bundesgerichtshof ermöglicht, richtet sich gegen all die antieuropäischen Extremisten von ganz rechts und ganz links, die ohne Maß von angeblichem Demokratieabbau, EU-Diktatur und Bürgerferne in der Union schwafeln: ob sie nun Oskar Lafontaine oder Peter Gauweiler (die in Karlsruhe Klage einbrachten) heißen oder Heinz-Christian Strache oder Hans-Peter Martin in Österreich. Das deutsche Bundesgericht hat demonstrativ klargestellt, dass der EU-Vertrag eben nicht gegen das sehr strenge Grundgesetz verstößt. Das hat europaweit Beispielwirkung.

Etwas überraschend ist daher auch, mit welch demonstrativer Gelassenheit - um nicht zu sagen Passivität - die höchsten politischen Repräsentanten in der Europäischen Union reagieren. Mag schon sein, dass rasche Gesetzesänderung die deutsche Sache ins Lot bringt; mag schon sein, dass das EU-Tagesgeschäft davon praktisch unberührt bleibt, wie Ratsvorsitzender Carl Bild betont; mag schon sein, dass am Ende ohnehin nichts von Deutschland, aber alles von Irland abhängt - denn sollten die Iren den EU-Vertrag neuerlich ablehnen, müsste völlig umgedacht werden.

Das ist ein Irrtum. Das Urteil aus Karlsruhe ist eben keine innerdeutsche Angelegenheit, sondern eine zutiefst gesamteuropäische. Und ist ein demokratiepolitischer Meilenstein, der größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit und Debatte verdient. Karlsruhe hat implizit gezeigt, was EU-Integration sein muss: ein Mehr an Demokratie durch Ausbau der Rechte der Parlamente, auf nationaler wie auf europäischer Ebene in Straßburg. Das bedeutet umgekehrt: Beschneidung der Macht der Regierungen, mehr Kontrolle durch die Volksvertretung. Was will man mehr? (DER STANDARD, Printausgabe, 1.7.2009)