Tamara Tschikunowa

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Hamburg - Tamara Tschikunowa klagt, dass sie unter Amnesie leide. Sie wolle, nein, sie könne sich nicht mehr erinnern, korrigiert die usbekische Bürgerrechtlerin ihre Worte beim Interview in Hamburg, wo wir die derzeitige Stipendiatin der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte treffen. So ungerecht, so unangemessen sei das über die jungen Menschen verhängte Strafmaß der usbekischen Justiz gewesen, die in der Todeszelle den Tag ihrer Hinrichtung erwarteten.
Tamara Tschikunowa hatte nur eine schwache Vorahnung von den Irrwegen der Justiz in dem zentralasiatischen Land, als die Polizei eines Tages ihren Sohn abholte. Tschikunowa wurde unter Hausarrest gestellt, ihren Sohn aber zwang man im Gefängnis zum Schuldgeständnis für einen Mord, den er nicht begangen hatte. 

"Ich wusste nicht, was mit meinem Sohn ist. Zu einem späteren Zeitpunkt konnte ich erfahren, was sich in dieser Zeit abgespielt hatte: Offensichtlich hatte man per Mikrofon aufgenommen und direkt in das Untersuchungsgefängnis übertragen, wie man mich zu Hause im Arrest misshandelte. Mein Sohn, der sich diese Übertragung hatte anhören müssen, unterschrieb unter dem Eindruck des Gehörten. Offensichtlich hatte er die Hoffnung, so mein Leben retten zu können."
Drei Tage später wollte ihn die Mutter im Gefängnis besuchen. Ihr Gesuch wurde abgewiesen. Stattdessen bat man sie um frische Kleidung für ihren Sohn. Als Tschikunowa fragte, ob er noch lebe, warf man ihr ein blutiges Hemd ihres Sohnes vor die Füße.

Kurz darauf kam sie mit ihrer Anwältin wieder. Jetzt fühlte sie in ihrem Herzen, dass es zu spät war. "Ihr Sohn wurde am 10. Juli 2000 erschossen", so lautete die Mitteilung der Gefängnisdirektion an die Anwältin der Mutter. Bis heute verschweigt die Gefängnisleitung, wo Dmitri, Tschikunowas Sohn, begraben ist. Keine Verabschiedung, kein Gedenken. Das Einzige, was Tamara Tschikunowa blieb, war ein Brief. Darin schrieb ihr 28-jähriger Sohn, "dass es ein Wiedersehen mit seiner Mutter" gebe und "dass er kein Blut vergossen" habe.

"Jedes Leben ist wertvoll"

Tschikunowa gründete im Jahr 2000 die Organisation "Mütter Usbekistans gegen die Todesstrafe und Folter". "Jedes Leben ist wertvoll. Der Staat hat kein Recht, einem Menschen das Leben zu nehmen", betont sie. Denn mit ihrem Sohn saßen damals noch 54 weitere Menschen in der Todeszelle. Oft wegen kleiner Delikte. Wer beispielsweise beim Autodiebstahl zum zweiten Mal erwischt wurde, wurde mit der Todesstrafe belegt. Die Bedingungen? "Nicht auszudenken, was die jungen Menschen, meist knapp über 20 Jahre, zu erleiden hatten", erzählt sie. Besuch durften sie nur einmal im Monat bekommen. Nur die Vollstrecker der Todesstrafe kannten den Tag der Hinrichtung.

Tschikunowa hatte noch in der ehemaligen Sowjetunion Jus studiert und musste sich erst wieder in das aktuelle Strafrecht und die Verfassung einarbeiten. Es dauerte sieben Jahre. Dabei fielen ihr Gesetzeslücken auf, die den Unterschied zwischen Verfassungsanspruch und Rechtspraxis in den Gerichten zeigten.
Zehn Jahre kämpfte sie, unterstützt von NGOs, Politikern und westlichen Diplomaten. Ihre Erfahrung: „Lieber ein schlechter Dialog als ein guter Krieg mit der Regierung."

So organisierte sie mit wenig Geld im Winter 2003 eine internationale Konferenz zur Todesstrafe. Einen Tag vor Kongressbeginn sagte die Regierung die Veranstaltung in einem Hotel in Taschkent ab. Da die Diplomaten und Experten aber bereits angereist waren und von Sicherheitskräften am Hoteleingang abgewiesen wurden, bahnte sich ein Skandal an. Die Gäste fuhren in ihren Limousinen in Polizeibegleitung zur Wohnung der Menschenrechtlerin und hielten dort eine Pressekonferenz ab. Die Regierung spürte den internationalen Protest, die Zivilgesellschaft im Land wurde stärker.

2004 reiste Tschikunowa für die "Aktion gegen die Todesstrafe" in Kooperation mit Amnesty International und Sant'Egidio drei Monate lang nach Europa. Daraufhin gingen 12.000 Protestbriefe und Faxe an die usbekische Regierung. Präsident Islam Karimow ließ sich kurz darauf im Zuge der Parlamentswahlen zu der Äußerung hinreißen: „Als Mensch und Bürger bin ich gegen die Todesstrafe." 2005 trat er vor das Parlament, um Gesetze zur Todesstrafe auszuarbeiten zu lassen, das Tabuthema kam in die öffentliche Debatte.

Neue Demütigungen

Tschikunowas Arbeit trug erste Früchte. 2006 bestand der deutsche Außenminister Walter Steinmeier bei seinem Besuch in Usbekistan darauf, Tschikunowa persönlich kennenzulernen. Doch je größer die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ihr gegenüber wurde, umso mehr geriet die heute 60-Jährige unter Druck und wurde gedemütigt. Die Polizei beschimpfte sie als Prostituierte und wollte sie verhaften. Dann gingen Beamte mit einem Foto von Tür zu Tür, um sie bei den Nachbarn zu verleumden. Auch drohte man ihr mit dem Tod. Doch Tschikunowa hielt durch.

Am 1. Jänner 2008 fiel die politische Entscheidung. Die Todesstrafe wurde in Usbekistan abgeschafft. Tschikunowa kämpfte dann noch ein Jahr für die Verurteilten in der Todeskammer, damit deren Strafmaß herabgesetzt wurde. Sie rollte jeden einzelnen Fall nochmals auf, da noch unklar war, ob das alte oder bereits das neue Gesetz galt. In 40 Fällen erreichte sie eine lebenslange Haftstrafe, in zwölf eine zeitliche Haftstrafe. (Claudia Hangen, DER STANDARD, Print, 21.7.2009)