Gisela Dischner Wörterbuch des Müßiggängers
Aisthesis Verlag 2009, Edition Sirius,
330 Seiten
ISBN : 978-3-89528-727-5
25,50 Euro

Foto: Aisthesis Verlag

Das "Wörterbuch des Müßiggängers" ist eine literarische Fundgrube für Frauen und Männer und meiner Meinung sogar eines der wichtigsten Lehrbücher unserer Zeit. Es lehrt uns, ohne dabei belehrend zu sein, "die größte Kunst. Die Kunst zu leben" (Novalis). Wenn die Autorin von Moral spricht, dann höchstens von der "neuen Moral der Muße", die im 3. Jahrtausend im Entstehen begriffen sei. "Die Moral der Muße richte sich an den Einzelnen, der seine Schöpferkraft entdecken soll, der eigenverantwortlich sich auf keinerlei Führer mehr berufen kann". Auf den Spuren Sartres und Nietzsches kämpft sie gegen jegliche Unterdrückung und Ausbeutung einer repressiven Moral, die aus der Arbeitsgesellschaft resultiere, an. Während in dem Anfang der 80er Jahre erschienenen Buch "Schlegels Lucinde und Materialien für eine Theorie des Müßiggangs" die analytisch arbeitende Literaturwissenschafterin spricht, meldet sich Jahrzehnte später die Lebenskünstlerin zu Wort. KünstlerInnen seien zu Zeiten auch MüßiggängerInnen, denn Kunst ohne Muße sei nicht vorstellbar. Der Müßiggänger kenne kein "dauerndes Geschäftigsein" und ihm fehle Besessenheit.

Das "Wörterbuch" folgt den Spuren von (Muße)-Theoretikern, Philosophen, Dichtern und Mystikerinnen, wie Wolfgang Asholt, Friedrich Nietzsche, Bertrand Russel, Charles Baudelaire, Martin Heidegger, Soren Kierkegaard, G. W. F. Hegel, Friedrich Nietzsche, Jean-Paul Sartre, Jorge Luis Borges. Werke von Goethe, Schiller und Hegel sind ebenfalls häufig zitierte Autoren.

Atemberaubende Vision

Das Wörterbuch beinhaltet eine atemberaubende Vision: ein alternatives Lebensmodell zum arbeitszentrierten. Dabei handelt es sich keineswegs um einen anbiedernden Ratgeber oder Leitfaden, der zeigt, wie man in zehn Schritten Zeiteffizienz erlernt, um eingesparte Zeit wieder "effizient zu nutzen". Das wäre zu kurz gegriffen, denn alles Trachten scheint auf die Selbstbestimmung des Menschen - ganz nach dem humanistischen Bildungsideal - gerichtet zu sein. Das Wesen der Muße ist Ziellosigkeit und wenn es ein Ziel gibt, dann jenes, dass LeserInnen darin bestärkt werden, ihren individuellen Mußeweg spielerisch zu finden. Das, was einfach klingt, ist in der heutigen schnelllebigen Zeit äußerst schwierig. Die bewusste Entscheidung zur Muße erfolgt nicht von heute auf morgen. Der Müßiggänger ist ein Anti-Held, der sich " außerhalb seines Freundeskreises gegen aggressive Mitmenschen, die ihn als Taugenichts und Tachinierer beschimpfen, zur Wehr setzt". Ein wenig tragisch, aber ohne moralisierenden Zeigefinger, entwickelt er dafür verblüffende und kreative Strategien.

Muße im Keller

Der Müßiggänger zeigt, dass Muße im 3. Jahrtausend durchaus nichts Luxurierendes ist. Der Müßiggänger ist ein Homo Ludens, der das System spielerisch zu umgehen weiß. Da er die Freiheit über alles liebt, kündigt der Müßiggänger seinen Job, "knapp vor seinem seelischen Erstickungstod". Er erinnert sich an die Zeit, als er den ernsthaften Versuch machte, sich anzupassen: "es gelang ihm nie wirklich, er wurde krank daran, depressiv, er trank, um zu vergessen, er amüsierte sich auf Parties und mit Frauen, die sich ebenfalls amüsierten." Auch die Dandy-Attitüde helfe ihm da nicht weiter. Der Weg zu sich selbst war ein einsamer. Er entschied sich bewusst für den Müßiggang. "Daraus erwächst eine neue Geselligkeit. Der Müßiggänger ist frei. Leben heißt für ihn nicht Arbeit, sondern Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden. Er liebt es zu reisen, auch imaginär, er arbeitet nur so viel, dass er überleben kann, manchmal klopft der Gerichtsvollzieher an seine Tür. Er ernährt sich von Bionahrung. Die Gesellschaft kommt ihm krank vor. Hauptursache sei die "entfremdete Arbeit". Er selbst nimmt nur mehr kleine Jobs an und lebt bescheiden. Seit er sich für den Müßiggang entschieden hat, ist er ein "ständig Genesender". Er liest selten Zeitung, fährt Rad, geht viel spazieren. Er hat eine Geliebte namens Klio. Er denkt sich mit ihr immer neue Liebesspiele aus, er ist experimentierfreudig, lehnt Dogmatisches ab. Die Muße ist für ihn das Telos des Lebens und er ist sensibel genug für den Kairos." Er wartet nicht mehr darauf, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen, die alles andere als mußefreundlich sind, verändern, sondern er sucht in sich selbst und wirkt so wiederum auf die Gesellschaft ein. Er (und seine Freunde "im Keller") gehen den Weg der kleinen Schritte und hoffen darauf, dass es immer mehr Menschen gibt, die sich auf individuelle Mußewege begeben.

Nicht von dieser Welt

Gisela Dischner hat den Müßiggänger in Anlehnung an den gesellschaftlichen Status quo mit der ungleichen Aufteilung der Zeit- und Geldressourcen zwischen den Geschlechtern bewusst männlich gezeichnet. Ihren Untersuchungen zufolge war und ist Muße in gesellschaftlicher Hinsicht ein männliches Vorrecht. Die Müßiggängerin wird deshalb in dem Manuskript als rätselhafte Figur gezeichnet. "Fremdvertraut" taucht sie zwischen den Seiten und bei ihren Freunden im Keller auf. Sie wird von ihnen "Merlina" genannt. Sie ist nicht von dieser Welt. Sie sucht nichts, ist ziel-, horizontlos und frei. Während an der Existenz des subversiven Müßiggängers, der sich mit seinen Freunden im Keller trifft, nicht gezweifelt wird, handelt es sich bei der Müßiggängerin um eine "sagenumwobene Gestalt". "Niemand hat mit ihr gesprochen, viele glauben sie gesehen zu haben, die Aussagen über ihre Gestalt sind widersprüchlich." (S. 144) Merlina hinterlässt manchmal anonyme Botschaften auf Handys, die Hinweise im Sinne der Selbstschaffung geben: "Der Mensch ist so groß, dass ich ihn nicht sehe."

Als elitär denunziert

War die Muße einst dem Adel vorbehalten, so ist Muße heutzutage, "wo Maschinen wirklich den Großteil der Arbeit übernehmen und die einzig gerechtfertigten Sklaven die Computer sind", kein Privileg mehr. Dennoch hat die Muße in der Postmoderne ein schlechtes Image. Jemand der zugibt, über freie Zeit und über Muße zu verfügen, steht unter Rechtfertigungszwang. Der Muße haften Vorurteile des Elitären und der Faulheit an während (Lohn)Arbeit gesellschaftlich hoch geachtet wird. In der Antike war es genau umgekehrt. Muße war etwas für Götter und Arbeit war den Sklaven vorbehalten (Aristoteles). Im Laufe der Jahrhunderte vollzog sich in der europäischen Kultur ein Wertewandel, der die Muße beinah in Vergessenheit geraten ließ. Durch die vom so genannten Turbokapitalismus angerichteten Schäden an Mensch und Umwelt wird wieder über Muße als Wert nachgedacht und als alternatives Lebensmodell diskutiert. Ohne Muße keine Bildung, ohne Muße ist kein selbstbestimmtes Leben möglich, heißt es. Dennoch sind Geld und Leben in der kapitalistischen Gesellschaft derartig miteinander verquickt, dass sogar in Zeiten der Finanzkrise und dem Raubbau an menschlichen sowie ökologischen Ressourcen der Gedanke an einer "Entkoppelung" ketzerisch klingt.

Politische Dimension

Das Werk ist durch und durch politisch: es erweitert den inneren Raum des/der Lesenden - den Raum, wo Widerstand gegen die Zumutungen des Alltags wachsen kann. Dieser Widerstand richtet sich gegen die derzeit vorherrschende Arbeitsmoral des neoliberalen Turbokapitalismus, der nahezu alle Lebensbereiche der Menschen vereinnahmt. Aktuelle gesellschaftspolitische Fragen, wie etwa Überlegungen zum Grundeinkommen für "Wohnfrau/mann" sind ganz im Sinne des Müßiggängers, der es auf den Punkt bringt: "Vollbeschäftigt mit der Kunst des Müßiggangs - zu Hause. Mit der Wohnfrau/bzw. dem Wohnmann und der Muße würde ein neues Kapitel in der geschrieben werden, denn die "Einheit von Leben, Arbeit und Kultur würde auf einer neuen Ebene wieder hergestellt werden. (S 99). Fazit: Das Wörterbuch ist ein eindringliches Plädoyer für eine Mußegesellschaft. (Von Gastautorin Gerlinde Knaus, dieStandard.at, 25.8.2009)