Den "Improvisationsunfall" zur stilbildenden Norm erhoben: Ornette Coleman, Verwalter seiner selbst.

Foto: Jazzfest Saalfelden

Saalfelden - Welches Konzept ein Jazzfestival wie Saalfelden auch verfolgen mag - der Beschäftigung mit der Historie dieser Kunstform kann es nicht ausweichen; sie wird dem am Sonntag zu Ende gegangegen Event vom Genre selbst regelrecht diktiert. Der aktuelle Zustand des Jazz lässt sich ja seit Jahren nur noch als Koexistenz des Gewesenen und des Gegenwärtigen beschreiben. Wobei: Auch das Gegenwärtige becirct seit Jahren nicht mehr durch Stilneuheiten im strengeren Sinne; vielmehr durch - hoffentlich - sehr subjektive Ausformungen einer Auseinandersetzung mit der Historie.

Als quasi echte Neuheit könnte man denn auch paradoxerweise eher das exakte Nachstellen diverser Stile bezeichnen, etwa wenn ein Wynton Marsalis im Rahmen von Bigbands versucht, selbst individuelle Spielweisen einzelner historischer Größen wiederzuerwecken - in einer Art Originalklangbewegung des Jazz. Auch der Saalfeldener Versuch des Rova Saxophone Quartets, eine bedeutende Einspielung von John Coltrane aus 1965 quasi zu reinterpretieren, repräsentiert diesen Trend im Umgang mit historischen Vorbildern. Eine Einspielung wird da gleichsam als zu deutende Partitur betrachtet.

Der letzte Innovator

Da ist dann zwar immer noch reichlich Platz für individuelle Statements. Man ist allerdings doch dankbar, dass es noch so jemanden wie Ornette Coleman gibt. Er ist das Original und der wohl letzte lebende Improvisator und Komponist, den man heute im Jazz für bedeutende Stilumwälzungen verantwortlich machen darf. Also jemand, der Musikgeschichte authentisch in die Gegenwart transferieren kann, da Musikgeschichte zugleich seine eigene Geschichte repräsentiert.

Wobei: Es wirkte in Saalfelden immer noch provokant und irritierend, wie sich der Altsaxofonist, der auch kurz zu Geige und Trompete greift, im Rahmen seiner eigenen Stücke als Improvisator positioniert. Mit einem lapidaren Stil verweigert Coleman jeglichen dramaturgischen Aufbau eines Solos. Und tobt die Band um ihn herum, bleibt er ein bewusst dem Energiestrom der Rhythmusgruppe entgegensinnierender Exzentriker, der Glissandi liebt, kurze Phrasenfragmente und Lyrik dort einbringt, wo sie am wenigsten erwartet werden. Als wäre er den eigenen Stücken abhanden gekommen.

Das meiste davon ist bewusstes Gestalten, wobei der 79-Jährige am Altsaxofon zweifellos schon ein Nachlassen der Kräfte vermittelt. Wo dies eindeutig hörbar wird, lässt sich mitunter jedoch nicht sagen. Absichtsvolles Statement? Improvisationsunfall? Fallweise nicht zu bewerten, aber so war es wohl immer: Keiner kann so spielen wie Coleman, und keiner dürfte so spielen wie er. Wobei Letzteres mittlerweile zu betonen ist.

Wie auch immer. Seine spontanen Einwürfe sind prägender Teil eines raffinierten musikalischen Konzepts, das ja nicht dem entspricht, was man gemeinhin als Free Jazz bezeichnet. Es zelebriert das Coleman Quartet ja kein total ungebundenes Musizieren, das jegliche harmonische, rhythmische und melodische Festlegung verwirft. Coleman ist der smarte Konzeptualist, der ein Regelsystem für seine Mitspieler erschaffen hat, das Freiheit garantiert - jedoch innerhalb eines Ordnungssystems.

Das wirkt noch heute, Jahrzehnte nach der Erschaffung, anspruchsvoll magisch, glänzt polytonal, polyrhythmisch und bisweilen dekonstruktivistisch. Und immer schimmert bei Coleman in Saalfelden - bei aller Abstraktheit - ein Fundament aus afroamerikanischen Uraltwurzeln durch.

Das lässt sich auch über Wolfgang Puschnigs Projekt "Room" sagen. Mit zwei Gitarren, Schlagzeug, Bass und Eric Mingus als zornigem Sangesprediger führt der Saxofonist seine in knappen, einprägsamen Themen gebündelten Ideen in die Bluesrock-Richtung. Ob der Gitarre von Rick Iannacone erlang das Erdige dann eine schräg-reizvolle Ambivalenz, die man sich mitunter auch im rhythmischen Bereich gewünscht hätte.

Saalfelden 2009 war übrigens ausverkauft. Und insgesamt hat es sich mit einem nahezu schwächelosen Programm, das am letzten Tag auch den kultiviert mit und in der Trioform spielenden Pianisten Vijay Iyer präsentierte, zu seiner 30. Wiederkehr reich beschenkt. (Ljubiša Tošić, DER STANDARD/Printausgabe, 01.09.2009)