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Am Donnerstag Abend hielt Seamus Heaney die Eröffnungsrede auf der diesjährigen Tagung der europäischen Gesellschaften und Zentren für irische Studien (EFACIS). Im Festsaal der Universität sprach er von den Verbindungen und Umwegen zwischen irischer und europäischer (Literatur-)Geschichte, die bis nach Griechenland, Italien und Kärnten führen. Im Interview mit dem Standard nimmt Heaney zur Veränderung des Irland-Bildes Stellung, zur Rolle des Dichters, zu seiner Amerika-Erfahrung, Eminem, Rockmusik und den Kennedys.

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Standard: Der Titel der diesjährigen Konferenz der European Federation of Associations and Centres of Irish Studies (EFACIS) lautet "Ireland in/and Europe: Cross-Currents and Exchanges". In welchem Ausmaß ist es Ihrer Ansicht nach ein "in" bzw. nur ein Nebeneinander ("and")?

Heaney: Das ist eine große Frage, und ich möchte keine Antwort geben, die zu hübsch oder zu einfach ist. Es ist wohl beides. Einerseits sind wir wegen unserer Lage und unserer Position in der anglo-amerikanischen Sprache am Rand von Europa. Doch wegen der eineinhalb Jahrtausend judäo-christlicher Kultur sind wir voll und ganz drinnen. Und wenn die EU gleich Europa ist, dann sind wir hoffentlich auch dort "in".

Standard: Wie viele Dichter haben Sie sich durch ihre persönlichen, sozialen und geschichtlichen Wurzeln anregen lassen. Dass diese Wurzeln in Irland besonders stark sein sollen: Ist das ein Klischee oder mehr?

Heaney: Die gälischen Dichter betrachten den mythologischen Amergin als den Ur-Dichter Irlands. Er ist der Sage nach mit den Eroberern unter König Milesius aus Nordspanien ins Land gekommen, und sein erstes Gedicht war eine Segnung der Insel. Von da an, durch die ganze Geschichte, auf Irisch und auf Englisch könnte irische Dichter immer die Rolle des nationalen Barden einnehmen, und in Krisenzeiten hat man von ihnen sogar erwartet, dass sie das tun. Aber moderne Autoren reagieren auf diese Tradition immer vorsichtig, oft ironisch, manchmal sogar mit Spott. Ich selber stand immer unter dem Druck, der dichterische Repräsentant der katholischen nationalistischen Minderheit Nordirlands zu sein. Doch kein Dichter kann es sich erlauben, zum Sprachrohr der Parteilinie zu werden. Die innere Freiheit muss geschützt werden.

Standard: Das traditionelle Bild Irlands, wie es beispielsweise noch Böll in seinem Tagebuch (1957) gemalt hat, ist einem ganz anderen Image gewichen: dem des keltischen Tigers, des hochmodernen EU-Mitglieds, das allerdings nun mitten in der Krise steckt. Sind das wirklich grundsätzliche Veränderungen, und wie reagieren Sie auf sie?

Heaney: Es sind dramatische, sogar drastische Veränderungen seit der Mitte des letzten Jahrhunderts. Man könnte fast sagen, Irland ist von der Prämoderne zur Postmoderne gesprungen, ohne Zwischenstadium. Der plötzliche Wohlstand, der Verfall der kirchlichen Autorität und des Respekts vor dieser Autorität, und jetzt der plötzliche Verlust des Wohlstands - all diese Entwicklungen haben das individuelle und allgemeine Bewusstsein durcheinander gebracht. Ich denke, ich reagiere darauf halsstarrig, indem meine Landschaft und meine Bilder in einer erinnerten Welt verwurzelt sind. Ich würde sagen, die Funktion der Dichtung ist es, die Abenteuer des Geistes aufzuzeichnen und nicht die Politik und Soziologie des Augenblicks.

Standard: Nach den fatalen Folgen des Irlandkonflikts in den Jahren 1969 bis 1972 äußerten Sie sich aber öffentlich sehr besorgt, und das schlug sich auch in Ihrer Arbeit nieder. Jahre später erschien rückblickend Ihr Band Preoccupations, da schrieben Sie, man müsse, bei aller Treue zur Poesie, die Spannung zwischen der Perspektive der Vernunft und der religiösen Intensität der Gewalt - deren verabscheuungswürdige Autorität und Komplexität immerhin anzuerkennen sei - entdecken und aushalten.

Heaney: Also, der Dichter soll nicht irgendwo weit weg stehen, doch er soll auch kein Dokumentarist sein. Wenn Dichtung Reportage wird und sich konkret um Themen kümmert ("issue-based"), dann gerät sie in das Eck der Tagesaktualitäten. Ein Dichter soll natürlich wissen, was Sache ist, er soll erstmal das Gegebene verstehen. Vielleicht kann er dann dieses Gegebene ein klein wenig verändern helfen.

Standard: Ist das konkret damals in Irland passiert? Haben Sie etwas bewirkt?

Heaney: Nicht ich als Individuum. Aber wir waren eine aktive Gemeinschaft von Künstlern und Schreibern, und wie uns die Leute sahen, hat das wahrscheinlich etwas bewirkt. Dass wir die Verhältnisse mit Anstand und mit Ironie betrachten konnten, das mag die Iren zuversichtlicher gestimmt haben.

Standard: Apropos bewirken: Es wurde vor ein paar Jahren viel Wirbel darüber gemacht, dass Sie den Rapper Eminem wegen seiner "verbalen Energie" lobten.

Heaney: (lacht) Also das war so, dass ich auf einer Konferenz für Lehrer war, die vor sich hindämmerte, und es ging darum, wie man den Schülern überhaupt noch Englisch beibringen kann. Ein Teilnehmer sagte, dass die Kids sowieso nur Rock und Rap hörte und was ich davon hielte. Ich kannte durch meinen Sohn ein paar Songs von Eminem, die ja wirklich gut sind - sonst wusste ich nichts von ihm -, und sagte den einen Satz mit der Energie. Das wurde von den Journalisten sofort begierig aufgenommen, und am nächsten Tag ging es durch alle Medien: "Nobelpreisträger preist Rapper, der Mord und Vergewaltigung verherrlicht!"

Standard: Es wird morgen nicht im Standard stehen, dass der Nobelpreisträger einen Songwriter preist, der LSD und den Aufstand in Belfast verherrlicht. Aber wie stehen Sie zu John Lennon? Der hatte ja auch gälisches Dichterblut in den Adern.

Heaney: Aber ja, McCartney ebenfalls, und die waren auch gut. Überhaupt muss man sagen, dass die Rocklyrik heute vielleicht den Platz einnimmt, den einst die rhapsodischen Sänger hatten. Schon Plato betrachtete sie mit Misstrauen, weil die Zuhörer von ihnen hingerissen waren und nicht vernünftig blieben.

Standard: Noch ein letztes Beispiel aus ihrer Heimat: Van Morrison.

Heaney: Ein sehr gutes Beispiel. Morrison ist seiner Sache treu geblieben, er ist in großem Maß eine Schöpfung Belfasts. Und auch er hat mitgeholfen, den nordirischen Katholiken Selbstrespekt zu geben; seine Musik war ein Signal, das um die Welt ging.

Standard: 1970 sind Sie für ein Jahr an die Universität von Kalifornien in Berkeley gegangen und haben diese Erfahrung als "befreiend" bezeichnet - auch von den klaustrophoben Zuständen in Irland?

Heaney: Ja, in vielerlei Hinsicht. Belfast war doch sehr puritanisch und eng, ganz unabhängig von den religiösen Konflikten. Und es war kalt und regnerisch. Die ganze Lebensart an der Westküste war völlig anders. Von den Studenten, die mich mit "Hi, Seamus!" ansprachen, über die Hanfschwaden in der Luft bis zu den Protesten gegen den Vietnamkrieg und für freie Rede. Man spürte das Mikroklima dort, eine neue Ära. Die poetry protests mögen, sagen wir, das Pentagon nicht wirklich beeinflusst haben. Doch es hatte etwas Erhebendes.

Standard: Der von Allen Ginsberg angeführte Versuch, das Pentagon mit Gesängen zum Levitieren zu bringen, war ja auch nicht erfolgreich.

Heaney: Ja, gut, dass Sie ihn erwähnen! Ginsberg war ja so eine Art alternativer Außenpolitiker der USA, er repräsentierte einen Aufschrei ....

Standard: einen Howl!

Heaney: ... gegen die damaligen Zustände - obwohl, Howl war schon viel früher, aber egal. Was noch schön war an Berkeley: dass ich von dem Fließband Stipendien/Unterrichten/Stipendien/Hypotheken/Unterrichten usw. abspringen konnte. Ich habe an Selbstvertrauen gewonnen.

Standard: Wie kam Ihnen die irische community in den Staaten vor?

Heaney: Die gab es weniger in Kalifornien, viel eher in Boston (Heaney war ab 1981 immer wieder an der Harvard University). Es gab dort Elemente des Pseudo-Irischen, der Folklore. Aber ich lernte viele (US)-Iren kennen, und es überraschte mich, dass, obwohl sie gutsituiert und bereits in der dritten Generation dort waren und eine gute Ausbildung hatten, dass sie immer noch diese ironisch-irische Distanz zu den Angelsachsen hatten: "Ahh, Seamus, du bist wohl unterwegs an die Haaavaaad!"

Standard: Am letzten Wochenende wurde Ted Kennedy begraben, der "Löwe des Senats", wie Obama sagte, und das letzte politisch aktive Mitglied der wahrscheinlich mächtigsten irischen Familie in den USA. Von Irland aus gesehen, aber auch mit Ihren Erfahrungen in Berkeley und Harvard: Was hat dieses Ende bei Ihnen ausgelöst?

Heaney: Ich habe Ted Kennedy mehrmals getroffen, in seinem Senatsbüro in den Achtzigerjahren, dann bei einem Familiendiner nach einer Lesung im Kennedy Center und einmal, als er Derry besuchte. Ich kannte auch Jean Kennedy Smith, als sie zur Zeit der Clinton-Regierung Botschafterin in Dublin war. Diese beiden Menschen haben immens viel dafür getan, dass Nordirland in der Downing Street und im Weißen Haus im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, und sie spielten eine entscheidende Rolle in der Verbesserung der politischen Situation und im schließlichen Erfolg des Friedensprozesses. Die Iren haben also allen Grund, den Beitrag der Kennedys zu begrüßen. Teds Leistung als Gesetzgeber in seinem eigenen land war ebenso bewundernswert. Es tat mir sehr leid, dass ich letzten Dezember nicht die Einladung akzeptieren konnte, sein offizieller Begleiter zu sein, als er von Harvard ein Ehren-Doktorat bekam. Wenn ich nicht schon meiner eigenen Alma Mater in Belfast zugesagt hätte, hätte ich den Ozean überquert, um ihn zu feiern.

(Michael Freund, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 05./06.09.2009)