"Es ist so, also würde hier alles im Verborgenen ausgehandelt werden." Helga Nowotny plädiert für mehr öffentliche Diskussion über bioethischen Fragen in Österreich.

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STANDARD: Erstmals in der Geschichte der EU wird mit dem ERC Grundlagenforschung gefördert. Wie sieht Ihre Zwischenbilanz nach zwei Jahren aus?

Nowotny: Insgesamt ist die wissenschaftliche Bilanz des ERC überaus erfreulich, denn er genießt hohes Ansehen und das Vertrauen der gesamten europäischen Scientific Community. Grundlage für diesen Erfolg ist, dass für die Auswahl der geförderten Antragsteller ausschließlich das Kriterium wissenschaftlicher Exzellenz zählt. Wenn man nur darauf setzt, folgt daraus auch, dass es Gewinner und Verlierer gibt.

STANDARD: Gehört Österreich eher zu den Gewinnern oder den Verlierern?

Nowotny: Österreich hat bei den Advanced Grants für die Top-Wissenschafter sehr gut abgeschnitten und kann so weit mit den Starting Grants für die Nachwuchsforscher zufrieden sein. Allerdings zeigt sich ein deutlicher Abstand zu zwei anderen kleinen Ländern, die besonders erfolgreich waren, nämlich die Schweiz und Israel.

STANDARD: Lässt sich noch mehr über Gewinner und Verlierer sagen?

Nowotny: Augenfällig ist jedenfalls, dass beim Abschneiden der einzelnen Länder eine deutliche Korrelation mit den jeweiligen nationalen Forschungs- und Entwicklungsausgaben sichtbar wird.

STANDARD: Hatte der ERC umgekehrt auch Rückwirkungen auf die nationalen Forschungsfördersysteme?

Nowotny: Ja, eine ganze Reihe von Ländern hat sich spontan bereit erklärt, bei den Starting Grants von sich aus jene Nachwuchsforscher selbst zu finanzieren, die zwar in die engste Auswahl kamen, es zum Schluss jedoch mangels ausreichendem Budget doch nicht geschafft haben. Interessant ist auch eine gewisse Diskrepanz, die sich zwischen der Attraktivität eines Gastlandes und der Anzahl der Forscher aus dem eigenen Land zeigt, die auswärts forschen.

STANDARD: Welche Länder sind für Top-Forscher besonders attraktiv?

Nowotny: Das beliebteste Gastland ist Großbritannien sowie - in kleinerem Maßstab - die Schweiz. Es macht sich also für ein Land absolut bezahlt, wenn es attraktive Arbeitsbedingungen für international sehr gute Forscher bietet. Das Gegenbeispiel ist Deutschland, das zwar zahlenmäßig an der Spitze liegt. Viele seiner besten Forscher arbeiten aber außerhalb des Landes.

STANDARD: Lässt sich absehen, was der ERC im Hinblick auf den Wettbewerb mit den USA und zunehmend auch Ostasien bringen wird?

Nowotny: Der ERC unternimmt vermehrt Anstrengungen, um Forschungsstätten in Europa auch für andere Regionen der Welt attraktiv zu machen. Dieser Prozess wird aber noch eine Weile dauern, bevor sich sichtbare Resultate einstellen.

STANDARD: Wird sich der Vorsprung der USA dank des neuen, wissenschaftsfreundlicheren Präsidenten weiter vergrößern? Oder leidet umgekehrt gerade die US-Spitzenforschung besonders stark unter der Finanzkrise?

Nowotny: Das vermag niemand vorherzusagen. Die Top-Universitäten in den USA mussten einen Aufnahmestopp einführen, und Bauvorhaben von Infrastrukturen für die Forschung wurden auf Eis gelegt. Andererseits hat das wirtschaftliche Stimuluspaket von Präsident Obama einen kräftigen Investitionsschub in die Forschung beinhaltet, der bereits spürbar ist.

STANDARD: Gerade im besonders heißen Feld der Stammzellforschung scheint es so zu sein, dass die Durchbrüche entweder in den USA oder in Ostasien passieren, nicht aber in Europa. Täuscht dieser Eindruck?

Nowotny: Europa hat lange Zeit eine sehr gespaltene Haltung, vor allem zur embryonalen Stammzellforschung eingenommen. Einige Länder wie Großbritannien und Schweden haben zwar eine liberale Gesetzgebung, andere wie Deutschland, Österreich und Italien eine sehr restriktive. Wenn Forscher das Gefühl haben, sie müssten sich ständig in der Öffentlichkeit rechtfertigen, schlägt sich das irgendwann auch in der Forschungsleistung nieder.

STANDARD: Sie haben gemeinsam mit dem italienischen Stammzellforscher Giuseppe Testa gerade ein Buch über die gesellschaftlichen Herausforderungen der Lebenswissenschaften geschrieben. Der Titel "Die gläsernen Gene" suggeriert, dass unsere DNA mittlerweile ziemlich durchschaubar ist. Ist das so?

Nowotny: Der Titel enthält mehrere Anspielungen. "Gläsern" heißt zwar durchschaubar, aber auch, dass man durch etwas durchschaut, ohne dabei eine Substanz zu entdecken. Dann ist da der "Gläserne Mensch", die berühmte Ausstellungsfigur des Dresdner Hygienemuseums und eine Ikone der damaligen fortschrittsgläubigen Zeit. Doch was ist davon übrig geblieben? Nicht viel mehr als eine Erinnerung an den Machbarkeitswahn und die Illusion, vollständige Kontrolle erlangen zu können.

STANDARD: Eine der Hauptthesen Ihres Buches ist, "dass wir, je mehr wir über unsere eigene Biologie wissen und lernen, desto weniger fähig sind, dieses Wissen in ein kohärentes Ganzes einzupassen". Haben Sie Vorschläge, wie wir damit umgehen sollten?

Nowotny: Das Buch plädiert für die Emanzipation der Individuen, die sich verstärkt zutrauen sollten, bestimmte Entscheidungen über ihre Biologie selbst zu treffen. Die Gesellschaft muss freilich die Bedingungen dafür schaffen, also die Individuen auch zu einer größeren Handlungsfreiheit zu befähigen. Das heißt nicht, ethische Richtlinien zurückzunehmen, doch mehr Freiraum zu schaffen, um Betroffene im Einzelfall die auf ihre konkrete Lebenssituation zugeschnittene Entscheidung finden zu lassen - und sie dabei zu unterstützen.

STANDARD: Reicht es, so wie in Österreich, eine Bioethikkommission zu haben? Oder braucht es mehr an öffentlichem Verhandlungsraum?

Nowotny: Was in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern auffällt, ist, wie wenig öffentliche Diskussion es über bioethische Fragen gibt. Von öffentlichem Verhandlungsraum sind wir also weit entfernt. Es ist so, also würde hier alles im Verborgenen ausgehandelt werden, was dazu führt, dass wir weder eine individuelle noch eine kollektive Moral zu haben scheinen. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.09.2009)