Die Füllung einer Gedächtnislücke im Kosovo: National- und Universitätsbibliothek Prishtina von Architekt Andrija Mutnjaković aus dem Jahr 1983.

Foto: Wolfgang Thaler

Dass gebauter Raum ein kulturelles Gedächtnis verkörpere und für das Individuum Erinnerung dauerhaft abrufbar mache, ist eine alte und beständige Vorstellung. Vor allem Städte sind für die Konstruktion von Erinnerungsräumen bedeutsam, sie funktionieren gewissermaßen als Gedächtniskarten. Die gezielte Verräumlichung des Gedächtnisses bildet umgekehrt eine subtile und machtvolle Kraft im Umgang mit der Vergangenheit.

Aus diesem Grunde zählt auch die Aufladung von Bauten mit Erinnerung und kulturellem Gedächtnis zu den meiststrapazierten Themen der Architektur. Das Überdauern eines Bauwerks wird mit dem Überleben des kulturellen Erbes und mit Kontinuität eines Systems gleichgesetzt. Dieses Denken misst der Erhaltung architektonischer Substanz unverhältnismäßige Bedeutung zu. Wenn das einst mit Bedeutung aufgeladene Bauwerk nicht mehr vorhanden ist, entsteht die Idee der Rekonstruktion. Der exzessive Höhepunkt dieses Gedankens ist die freie Nachgestaltung historischer Bauten. Vor allem in den südlichen Ländern der Region Südosteuropa sind Rekonstruktionen ein heikles Thema.

"Balkanology" im AZW

Im Architekturzentrum Wien wird sich die Ausstellung Balkanology mit Aspekten ungesteuerter architektonischer und städtebaulicher Entwicklungen als Abbild turbokapitalistischer, neoliberaler Wirtschaftsprinzipien befassen und neuere, innovative Lösungen in den Blick nehmen. Ohne das Thema der Rekonstruktionspraxis und deren Hintergründe zu berühren, ist ein Verständnis der Planungen in den südlichen Ländern Südosteuropas aber kaum möglich.

Sie enthüllen eine tiefwurzelnde ethnisch-nationale Problematik, die in Architektur und Städtebau ihren Ausdruck findet. Auch manche urbanistische Handlungen in den Hauptstädten werden über das Wissen um die ethnische, nationale Geschichte und Gegenwart verständlicher. Vor allem in Zeiten der Finanzkrise tritt dieser Aspekt verstärkt zutage.

In der mazedonischen Hauptstadt Skopje wurden jüngst mehrere Bauvorhaben begonnen. Das alte Stadttheater aus der Zeit des Königreichs Jugoslawien wird am Hauptplatz wieder aufgebaut. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine klassische Rekonstruktion des alten Theaters, sondern um ein symbolisches Spiel mit der Hülle.

Die Fassade des Gebäudes wird originalgetreu gestaltet, innen wird es neu ausgestattet. Auch der Maßstab ist nicht ganz getreu, das neue "alte" Theater wird wesentlich größer ausfallen als das einstige Bauwerk. Das spektakulärste Projekt dieser Art ist eine orthodoxe Kirche in historischer Manier des vierzehnten Jahrhunderts mitten auf dem Hauptplatz von Skopje.

Der Entwurf ist eine willkürliche, fantasievolle Interpretation des einstigen Bauwerks. An dieser Stelle stand einst eine Moschee, für die albanische Bevölkerung von Skopje ist diese Tatsache befremdlich. Eine gewisse Absurdität liegt weiters darin, dass diese Bauvorhaben im Wettbewerbsverfahren entschieden wurden. Nicht zufällig ist der Hauptplatz von Skopje Schauplatz dieser Bauvorhaben.

Dessen große prominente Bauten verkörperten im frühen 20. Jahrhundert eine neue politische, ökonomische und kulturelle Bedeutung der Stadt. Dazu gehörte das Gebäude der Nationalbank, das Stadttheater und der Offiziersklub. Die alte Brücke über den Fluss Vardar verband diese Symbole urbaner Macht zu einem eindrucksvollen Ganzen. Es war die Zeit des Königreichs Jugoslawien und der kulturellen Vorherrschaft Serbiens. Dieses alte Skopje, das heute von großen Teilen der Bevölkerung in der Überlieferung wehmütig beschworen wird, orientierte sich nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft, wie viele andere Städte Südosteuropas, kulturell zunehmend an Europa.

Wurzeln in der Vergangenheit

Die aktuellen, von Regierungsseite beschlossenen, architektonischen Projekte Skopjes kommunizieren eine eindeutige Botschaft. Es sind gezielte Rückgriffe auf eine konstruierte nationale Identität, deren Wurzel in der Vergangenheit liegt. Darüber hinaus beschwört der kulturpolitische Kurs der ultranationalistischen Regierung mit den Rekonstruktionen ein sehr einseitiges Geschichtsbild.

Diese alte und hartnäckig weitergereichte Interpretation der Geschichte betrachtet den Beginn der einstigen Osmanenherrschaft als radikale Unterbrechung einer vormals kulturell hochstehenden Entwicklung, die sich mit Europa im Einklang befand. Die Folge dieser Unterbrechung, das "türkische Joch" , war nach dieser Diktion kulturelle Regression und Barbarisierung.

Dieses mit nationalen Mythen aufgeladene Geschichtsbild wurde in den südosteuropäischen Ländern ab dem 18. Jahrhundert im Ringen um nationale Emanzipation beschworen und ist teils noch heute aufrecht. Die architektonischen Rekonstruktionen beschwören diese europäische Identität.

Eine paradoxe Umkehrung spielt sich indes in der Hauptstadt des Nachbarlandes Bulgarien ab. Auch Bulgariens nationale Mythen beschworen stets die Wurzeln der europäischen Identität. Dort ist sie baulich überreich vorhanden. Die Altstadt Sofias ist eine architektonische Schwester Wiens. Sofia wurde im 19. Jahrhundert als neue Hauptstadt im Fürstentum Bulgarien zur Gänze von Architekten der österreichisch-ungarischen Monarchie erbaut. Sie nahmen sich nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft die Residenzstadt Wien zum gestalterischen Vorbild.

Während nun in Skopje baulich rekonstruiert wird, entging das tatsächlich vorhandene europäische Erbe in Sofia vor einem Jahr nur um Haaresbreite der Zerstörung. Einem großen Teil der historischen Innenstadt Sofias drohte im Herbst 2008 zugunsten eines Investorenprojektes der Abriss. Im letzten Moment wurde die Zerstörung der Altstadt Sofias vereitelt. In der Folge möchte die Regierung Bulgariens mit einem städtebaulichen Vorhaben nun großmaßstäblich aufholen.

Intelligente Umgestaltungen

Dominique Perrault hat sich in einem Wettbewerb zur Planung eines neuen Stadtteils gegen prominente internationale Konkurrenz wie Zaha Hadid, Norman Foster, Massimiliano Fuksas durchgesetzt. Das Projekt sieht ein großangelegtes zweites Zentrum Sofias östlich der Altstadt vor. In Anbetracht des überdimensionierten Vorhabens sind die kritischen Stimmen berechtigt. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Sofia ein neues Zentrum braucht. Intelligente Umgestaltungen, Umnutzungen, kluge Interventionen in der Altstadt oder Regulationen könnten im Sinne urbanistischer Regeneration mehr bringen als spektakuläre Großprojekte und Staraufgebote.

In Mazedonien herrscht dagegen ein ausgeprägtes Bewusstsein der jüngeren Architektengeneration. Im April protestierten Studenten der Architekturfakultät gegen die Rekonstruktionen am Hauptplatz, die Aneignung des öffentlichen Raumes und gegen die Zerstörung der Stadt. Die Kundgebung artete zu einer gewalttätigen Manifestation ethnisch-politischer Glaubenssätze aus und endete blutig.

Aggressive Suche

Dieser Vorfall spiegelt einen zentralen Faktor der Situation der Länder Südosteuropas wider; eine aggressive Suche nach nationaler und religiöser Identität, die sich auch der Architektur bedient. Architektur und Städtebau dienen dabei als Träger ethnisch-religiöser Botschaften. Planungsvorhaben werden benutzt, um populistische Botschaften zu vermitteln. Sie erzeugen ein explosives Amalgam, dem sinnvolle Planungen eher nachgereiht werden.

Das Thema besitzt über die gemeinsame kulturhistorische Geschichte hinaus auch eine europäische Dimension. Denn die Geschichte Europas ist eine Geschichte der Städtevielfalt. Die europäischen Städte sind nicht nur lebendiges Erbe, sondern Lebensräume, Schauplätze und Potenziale der Zukunft. Ein bewusster, achtsamer Umgang ist angesagt. (Gabriele Reiterer / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9.10.2009)