Tagebücher und Gegenstände eröffnen im Dokumentarfilm "Irène" von Alain Cavalier Erinnerungsräume.

Foto: Viennale

Drei mit den Jahreszahlen 1970, 1971 und 1972 goldig bedruckte Tagebücher liegen auf dem Tisch. Eine Hand ergreift sie ungeschickt und hält eines nach dem anderen näher ins Bild. Die Hand gehört dem französischen Filmregisseur Alain Cavalier; mit seiner anderen führt er die Kamera. Die Tagebücher sind seine eigenen. Aus den Eintragungen, die Cavalier in den betreffenden Jahren gemacht hat, wird er später vorlesen, während er die Kamera über die dicht gesetzten Zeilen lenkt. In ihnen taucht immer wieder der Name Irène auf.

Cavaliers Frau Irène Tunc, eine französische Schauspielerin, ist am 16. Jänner 1972 bei einem Autounfall ums Leben gekommen. In einer späteren Einstellung hält Cavalier die Tagebücher über das Feuer eines Campingkochers, so lange, bis die Buchrücken schmelzen. Es ist einer der Punkte, an denen Cavalier seinem Filmprojekt Irène mit Gewalt begegnet, eine Selbstverteidigung, in der er der _eigenen (aufgeschriebenen) Geschichte mit einer symbolischen Auslöschung droht. Von Anfang an sind diesem aus einer 35-jährigen Distanz entstandenen, sehr persönlichen Filmdokument die (auch) körperlichen Beschwerlichkeiten des Erinnerns eingeschrieben. Bereits im Vorspann ist das leise, aber doch schwere Atmen des Regisseurs zu hören, der mit einer Handycam die einst mit Irène bewohnten Orte wiederaufsucht und diese Suchbewegung kommentiert.

Der wachgerufene Schmerz über den vor Jahren erfahrenen Verlust eines Menschen kommt dabei in anderer, sichtbarer Form wieder: Eine Gichtzehe aus heiterem Himmel macht das Gehen unmöglich. Ein mit der Kamera erlittener Sturz auf der Rolltreppe hinterlässt seine Wunden im Gesicht und an den Händen. Es ist im Übrigen der einzige Moment, in dem sich der Regisseur zeigt, sich also von der ansonsten mit seinem Körper und vor allem seiner Stimme symbiotisch verbundenen Kamera löst.

Cavaliers zarter Flüsterton spiegelt auf unaufdringliche Weise die eigene Schwäche (vor dem einmal Geschehenen) wider, aber auch die Intimität der meist in Innenräumen abgerufenen Erinnerungen: darunter etwa die Form einer zerknüllten Bettdecke oder das breite Wohnzimmerfenster, vor dem Irène 1972 ihren Wagen startete.

Orte und Ereignisse aus der Gegenwart, etwa der Tod von Cavaliers Mutter, bringen unaufgelöste Gedanken hervor. Anderes wiederum, das an der Oberfläche gut sichtbar ist, ein Foto mit Irènes Hund beispielsweise, wird bei längerer Betrachtung unklar. Der Film weiß seine Geheimnisse zu schützen, ohne dadurch das Andenken an eine Frau zu überhöhen.

Alain Cavaliers Irène läuft nie Gefahr, als Memorial für einen geliebten Menschen zu erstarren; vielmehr entwickelt sich der Film durch seine scheinbar lose, splitterhafte Machart und seine frappant einfachen Mittel zu einem schlichten, schönen Dokument privater Vergangenheitsrecherche. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD/Printausgabe, 16.10.2009)