Die politischen Führer in den EU-Staaten und die Spitzen der EU-Kommission in Brüssel dürfen nach dem Ja der Iren zum Vertrag von Lissabon wieder einmal ihre Lieblingsfloskeln auspacken: "Ein guter Tag für Europa", sei das, "eine historische Entscheidung", "Danke, danke Irland", und wie das alles so schön heißt.

Das alles, die Freude, die Erleichterung, sei ihnen gegönnt. Aber das hat drei Aspekte:

Erstens: Immerhin, die Zustimmung zum EU-Vertrag könnte zumindest der Anfang vom Ende einer politischen Lähmung sein, die Europa seit der großen Erweiterung im Jahr 2004 und dem Scheitern des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 erfasst hat. Die Union war schon zu lange überdehnt, entscheidungsschwach, nur auf Konsolidierungskurs.

Und das Ausmaß an Zustimmung beim zweiten Referendum in Irland - eine Zwei-Drittel-Mehrheit - ist beachtlich. Die ewigen Beckmesser gegen die Union à la Hans-Peter Martin oder Declan Ganley oder Anti-EU-Hetzer wie die Kronenzeitung und die Rechts-Parteien mögen nun einwenden, wie undemokratisch das auch sei, weil man so lange abstimmen lässt, bis das gewünschte Ergebnis rauskommt. Das ist müßig. Offenbar haben die Wirtschaftskrise und die Zugeständnisse der Union (etwa in der Kommissarsfrage oder bei der Neutralitätszusicherung) die Iren zur Haltungsänderung gebracht. Das Ergebnis zählt, und es ist klar. Nun kann es weitergehen.

Zweitens: Dennoch besteht für Euphorie nicht der geringste Anlass. Die Europäer haben ganz andere Sorgen als jene, ob nun ein neuer EU-Außenminister kommt oder ob im Ministerrat in Brüssel mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt wird oder nicht. Während die Iren zu den Wahlurnen gingen und auszählten, konnte man zeitgleich beim EU-Finanzministertreffen in Göteborg und seit heute bei der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds in Istanbul die harte Wirklichkeit für die Menschen ablesen.

Während China, Indien und bald auch andere Regionen der Welt wieder auf Wachstumskurs gehen, sieht es für die EU-Staaten in den nächsten fünf bis sieben Jahren trübe aus: durchschnittliches Wachstum von nur ein bis zwei Prozent. Alle Finanzverantwortlichen sehen bangen nächsten Jahren entgegen. Die Schulden explodieren, die Arbeitslosigkeit nimmt zu (vor drei Tagen wurde ein Zehn-Jahreshoch im Euro-Raum verzeichnet, 9,6 Prozent im Schnitt), die Sozialsysteme sind kaum mehr zu finanzieren, aber es besteht keine Hoffnung auf Wachstumsschub. Gewaltige Struktureinschnitte stehen bevor.

Drittens: Der EU-Vertrag ist jetzt "durch", aber sein Inkrafttreten allein ändert noch nicht viel. Nun müssen die politisch Verantwortlichen in den Regierungen der Mitgliedstaaten, die EU-Kommission und die Parlamente zeigen, ob sie auch den Willen aufbringen, europapolitisch zu gestalten; anstatt sich auch bei wichtigen Fragen ständig in Nicht-Entscheidungen, in Verschiebungen, in Blockaden zu üben.

Der EU-Vertrag von Lissabon erlaubt in vielen Bereichen den berühmten Sprung nach vorn: in der gemeinsamen Außenpolitik, dem außenhandelspolitischen Auftreten der Europäer in der Welt, auch bei der Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik - einer Kernfrage der Zukunft. Aber die Möglichkeiten müssen genützt werden. Da das Europäische Parlament durch den Vertrag gestärkt wird, kann man hoffen, dass von dort viel Druck ausgehen wird.

Zum Schluss: Mit dem ja der Iren bekommen die Union wieder einmal eine zweite Chance: politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. So war das übrigens in der Vergangenheit fast immer. Auch die EU-Verträge von Maastricht 1993 und Nizza 2000 wurden in Dänemark beziehungsweise Irland im ersten Anlauf bei Referenden abgelehnt und gingen dann durch. Auch in diesen Fällen zeigte sich hinterher, dass die politischen Realitäten weit hinter den vertraglichen Möglichkeiten zurückblieben. Deshalb ist die Union heute ein Erfolg, aber mit vielen Hindernissen. Die Lebenserfahrung lehrt: Lissabon wird Fortschritte bringen, aber keine Revolution in Europa. So sind wir. (Thomas Mayer aus Istanbul/3.10.2009)