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Es sei keineswegs so, dass unser Gehirn gleich einer Festplatte jede Einzelinformation abspeichert, sagt Manfred Spitzer

Foto: APA/dpa/Matthias Hiekel

STANDARD: Sie sagen, dass unser Gehirn immer lernt, "ob wir wollen oder nicht" . Beginnt das Lernen bei der Informationsaufnahme?

Spitzer: Noch einfacher: Das Gehirn besteht aus Nervenzellen, die verbunden sind. Wenn über die Zellen elektrische Impulse laufen, ändern sich deren Kontaktstellen, die Synapsen. Ein genial gewählter Begriff dafür ist die "Gedächtnisspur" . Die Impulsverarbeitung hinterlässt Spuren. Deshalb lernen wir andauernd: Lernen ist Veränderung. Und die kann man sogar unter dem Mikroskop beobachten.

STANDARD: Was heißt das konkret für das Lernen von Kindesbeinen an?

Spitzer: Zunächst verstehen wir so besser, was es heißt, Laufen oder Sprechen zu lernen. Wenn nur ein Impuls über die Synapsen läuft, ändert sich nichts. Das Gehirn speichert keine Einzelimpulse - es ist eben keine Festplatte, sondern viel besser. Es speichert Allgemeines hinter dem Einzelereignis.

STANDARD: Was bedeutet es denn nun, Laufen zu lernen?

Spitzer: Das Laufen auf zwei Beinen ist schwer. Ein Ingenieur, der einen Roboter zum Laufen bringt, hat einiges zu tun. Es gilt die Hebelwirkung zu verstehen, sich mit Differenzialgleichungen herumzuschlagen. Die Frage ist: Wer hämmert das alles ins Babygehirn? Es selbst! Das Baby lernt nicht: Aha, ich bin gegen ein Stuhlbein gestoßen und gefallen. Es extrahiert aus vielen Plumpsern, wie man läuft. Es speichert nicht den Einzelfall des Plumpsens, sondern schließt daraus, wie man oben bleibt.

STANDARD: Und dieser Ablauf lässt sich aufs Lernen generell umlegen?

Spitzer: Ja. Sprechen lernen wir genau so: Wir baden in tausenden Äußerungen der Muttersprache und schließen daraus, wie Sprechen funktioniert. Das ist ein wichtiger Lernaspekt. Wenn man sagt, im Kindergarten wird heute auch gelernt, meint man vielleicht den Zahlenraum von eins bis 20 oder die Buchstaben A bis Z. In Wahrheit lernt man aber viel mehr.

STANDARD: In Wien haben Sie vor Trainern und Coaches geredet. Deren Klientel reicht vom Sportler über den Manager bis zum einfach Sprachbegeisterten. Was ist Ihre Botschaft für den Lernerfolg?

Spitzer: Ich habe Ihnen bisher den Normalmodus des Lernens geschildert. Manche Dinge lernen wir aber tatsächlich beim ersten Mal, ohne Wiederholung. Ich muss die Hand nicht ein zweites Mal auf die Herdplatte legen um zu merken, dass das keinen Spaß macht. In diesem Fall kommt der Angstaspekt dazu. Wenn ich etwas unter Angst lerne, dann wird diese Angst auch immer wieder mit abgerufen - sie blockiert aber meine Kreativität. Es muss also anders gehen.

STANDARD: Belohnung statt Strafe?

Spitzer: Ja, es geht mit positiven Emotionen. Die Zusammenhänge zwischen Freude, Glück, Neugier und Lernen wurden erst in den letzten fünf Jahren verstanden.

STANDARD: Sie haben vorhin die Kindergärten erwähnt. Was halten Sie allgemein vom Bildungssystem?

Spitzer: Wir müssen beachten, dass die Menschen unterschiedlich sind, aufgrund genetischer Voraussetzungen und ihrer Vorgeschichte. Jeder hat unterschiedliche Spuren im Kopf. Nun gilt es nicht, aus jedem einen Gedächtniskünstler oder Mathematiker zu machen. Die Menschen sollen sich selbst kennenlernen, ihre Stärken und Schwächen. Will man einem Pinguin 100-Meter-Lauf beibringen, wird er scheitern. Beim Schwimmen wird er glänzen. In den Schulen will man scheinbar lauter laufende Pinguine produzieren.

STANDARD: Wie ließe sich das System verbessern?

Spitzer: Wenn man die Leute dazu bringt zu sagen: "Da will ich hin" , dann werden sie gut. Man kann Jugendliche in der siebten Klasse darüber schreiben lassen, was sie erreichen wollen, und die werden rasch besser. Wenn ihnen nur irgendein Ziel vorschwebt, wird die Anstrengung in der Schule steigen. (Bernhard Madlener, DER STANDARD, Printausgabe, 24./25./26.10.2009)