Pubertäre Tabubrüche und harte Riffs für harte Burschen aus dem Hotel Mama. Rammstein aus Berlin regieren Deutschland.

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Christian Schachinger ist das wirklich zu dumm.

Der Verlust der Scham befördert das Obszöne. Rammstein, die Band, die international mit großem Erfolg für den hässlichen Deutschen steht, arbeitet seit eineinhalb Jahrzehnten mit klischeeverdächtiger Gründlichkeit daran, mit sogenannten Tabuthemen für Gänsehaut im Kinderzimmer von noch bei Mutti wohnenden 30-jährigen Buben zu sorgen, die sich seit ewig zu Weihnachten einen BMW wünschen, dann aber doch mit einem Kia draußen beim Shoppingcenter in die Radarfalle rasen.

Der im schönsten Reichsparteitags-Gutturalgegrunze vortragende Sänger Till Lindemann und seine ostdeutschen Freunde widmeten sich dabei auf Alben wie Herzeleid, Sehnsucht, Mutter oder Rosenrot häufig "kontroversen, tabuisierten und schambesetzten Themen", wie es so schön im Internetz heißt. Sadomasochismus, Homosexualität, Inzest, Missbrauch, Nekrophilie, Pyromanie, Kannibalismus, ein bisschen Religionskritik und Sex mit Faustwatschen. Farin Urlaub fasste so ein Weltbild einmal unter dem schönen Motto "Angst, Hass, Titten und der Wetterbericht" zusammen. Rammstein singen: Schau in die Krone! Und die Massen schreiben verliebte Hörerbriefe.

Auf dem neuen Album Liebe ist für alle da haben sich die sechs Chronikredakteure natürlich wieder besondere Mühe gegeben, den Zeitgeist einzufangen. Neben der für ihre gewohnte Energie bezüglich der Findung von schändlichen Alleinstellungsmerkmalen reichlich späten Entdeckung von Porno und strenger Kammer (siehe die Schlagmichfest-Metal-Schlager Pussy oder Ich tu dir weh) kommen Rammstein selbstverständlich auch nicht am Fall F. vorbei: "Komm mit mir, komm auf mein Schloss, da wartet Spaß im Tiefgeschoss", heißt es in Wiener Blut.

Das gefällt mit seiner Mischung aus zähledrigen und stahlharten Gitarrenriffs aus dem Fitnessstudio, döm größtän Föhrer allör Zöiten nachempfundenem Deklamationsgebell und im Hintergrund für schmierige Verbindlichkeit sorgenden Synthesizern selbst einem Publikum, das von der pubertären Lyrik nichts mitbekommt. In ehemaligen Teilstaaten der Sowjetunion, im von Franco noch nicht restlos befreiten Spanien und auch in sauerkrautaffinen Enklaven Süd- und Nordamerikas wird die Band eher wegen ihres martialischen Auftretens und dem treudeutschenwaffenbrüderlichen Image geschätzt als für ihre grundsätzlich harmlose Kunst einer Revolte gegen die guten Sitten. Das hier hat selbstverständlich nichts mit Faschismus zu tun. Rammstein sind einfach nur blöd. Und dies auf hochspekulative Weise.

Wo ihre heimlichen Vorbilder, das mit schweren faschistischen Zeichen und Stadionrock arbeitende und dies ad absurdum führende Kunstkollektiv Laibach noch für tatsächliche Verwirrung beim Publikum sorgte, ob denn das Ganze noch tolerabel sei, tauchen bei Rammstein solche Fragen erst gar nicht auf. Wir hören Toleranztests mit dem Vorschlaghammer. Provokation für kleine Menschen. Dass auf dem Cover des Albums kunstsinnig Peter Paul Rubens' Gemälde Die Anatomiestunde variiert wird (bitte googeln), legt eine falsche Fährte. Bilder, auf denen Männer nackten Frauen mit dem Fleischermesser näherkommen, bedeuten bei Rammstein schlicht eines: In der Hose wird es hart wie Kruppstahl. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6.11.2009)