Jenny Erpenbeck (42): "Grau kam die DDR nur den Westlern vor ... dann kamen die Westler und sagten, endlich werde es hier bunt."

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Standard: Sie sind 1967 in Berlin geboren und lebten die ersten 20 Jahre in der DDR, die zweiten in der Bundesrepublik. Wie nahmen Sie 1989 den Bruch auf?

Erpenbeck: Zur Kultur, mit der ich aufgewachsen war, gehörten Ernst Busch, Hanns Eisler, Wladimir Majakowski - die linke Tradition eben. Das kippte alles relativ schnell weg. Im Theater wurden auf einmal andere Dinge verhandelt, es tauchte ein anderes Publikum auf. Mein Vater (der Schriftsteller und Physiker John Erpenbeck, Anm.) mochte kaum noch hingehen. In der Universität gab es "Evaluierungen" , viele Wissenschaftler verloren ihre Arbeit. Das war in einer Stadt wie Berlin, wo es nach dem Mauerfall alles doppelt gab, schwierig. Dadurch war auch meine Mutter betroffen. Man merkte, dass die Eliten ausgewechselt wurden und die geistigen Strukturen an Plätzen wie der Universität von Leuten entschieden wurden, die mit dieser Welt nicht verbunden waren.

Standard: Empfanden Sie diese Veränderungen als Untergang?

Erpenbeck: Es war ein seltsames Gefühl: Wir waren noch da, aber wurden nicht mehr gefragt. Es fand so etwas wie eine feindliche Übernahme in kultureller Hinsicht statt. Es waren Vorgänge, die nicht immer von Vorteil waren und bei denen man auch das Gefühl hatte, dass Leute, die im Westen nicht landen konnten, plötzlich den Osten entdeckten.

Standard: Ihre Großeltern Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner, beide Schriftsteller, lebten während der Nazizeit als Emigranten in der Sowjetunion, spielten im kulturellen Leben der DDR eine wichtige Rolle. Wie hat Ihre Familie die Wende wahrgenommen?

Erpenbeck: Der Verlag, bei dem die Bücher meiner Großmutter verlegt wurden, machte sofort Pleite. Ihre Bücher wurden nicht mehr aufgelegt. Es war klar, dass das, wofür meine Großmutter ihr Leben lang gekämpft hatte, ein menschlicheres System, nicht funktioniert hatte, und dass man wieder zum Kapitalismus zurückkehrte. Für meine Großmutter war das extrem schwer. Sie hatte keinen Halt mehr und verlor darüber buchstäblich den Verstand. Ich glaube, dass es von der Enttäuschung herrührte, dass alles, wofür sie immer gekämpft hatte, falsch gewesen sein soll. Ein System, das innerlich nicht kritikfähig ist, kann auf Dauer nicht bestehen. Auch für meinen Vater war es eine Enttäuschung, die letztendlich bis heute anhält. Um weiter reine Philosophie zu betreiben, fehlte ihm die Freiheit von materiellen Sorgen, vor allem aber wurde die Frage nach dem Sinn seiner Arbeit ein Problem. Mein Vater hatte das Gefühl, als gebe es nichts mehr, wo man hindenke. Die Richtung war weg. Keiner wollte mehr etwas, das über die Sicherung des eigenen, sorgenfreien Privatlebens hinausgereicht hätte.

Standard: War das in der DDR anders?

Erpenbeck: Ja. Geld war nicht wichtig. Ich habe in der DDR nie über Geld geredet. Kaum fiel die Mauer, mussten wir über Geld reden. Ich weiß noch, dass ich das verblüfft registriert habe. Auch Professoren verdienten nicht horrend viel. Wir hatten keine hohen Preise für Bücher, Essen, Fahrkarten. Auch die Autos waren alle gleich. Plötzlich brach das Geld herein. In der Schule hatte ich gelernt, dass es im Kapitalismus Arbeitslose gibt, die Mieten hoch sind und in den USA Kinder verhungern. Das hat uns furchtbar gelangweilt, es ging uns nicht wirklich etwas an. Der Moment aber, in dem man statt 40 Mark für die Miete 400 zahlen soll, war ein existenzieller Schock. Plötzlich hatte man dieses Wissen als eigene Erfahrung.

Standard: Wann tauchten bei Ihnen Zweifel an der Verwirklichung der Idee einer humanen sozialistischen Gesellschaft auf?

Erpenbeck: Das Gute an der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, war, dass wir eine große Distanz zu unserer Regierung hatten. Jeder fand diese Mannschaft senil und unfähig und wartete darauf, dass Honecker abtritt. In der Stasi-Akte meines Vaters steht bereits Anfang der 80er-Jahre, dass er findet, das System müsse umgestürzt und besser gemacht werden. Die Frage war nur, ob man auf Seiten derer stand, die oppositionell tätig waren, oder so wie meine Eltern, die in der Partei waren, von innen durch Kritik eine Änderung zu erreichen versuchte. Wir haben es bis zum Mauerfall nicht für möglich gehalten, dass das hier einfach alles aufhört.

Standard: Aber schon das äußere Bild des Staates gab wenig Anlass zur Hoffnung. Ich erinnere mich, dass Kommunisten aus Italien nach Besuchen in der DDR sagten: Was für ein schreckliches, dunkles Land!

Erpenbeck: Grau kam die DDR nur den Westlern vor. Uns hat es am Anfang vollkommen fertig gemacht, dass jetzt plötzlich überall, wo vorher eine Wiese zu sehen war, ein Werbeplakat davorgestellt wurde. Dann kamen die Westler und sagten, endlich werde es hier bunt. Ich fand den Prenzlauer Berg früher interessanter. Die DDR hat wirtschaftlich nicht funktioniert, weil Wirtschaftlichkeit nicht an erster Stelle stand. Warum die Leute heute zu 57 Prozent sagen, in der DDR sei es ihnen besser gegangen, liegt daran, dass sie Arbeit hatten, die einen anderen Sinn vermittelte. Für Schriftsteller war die DDR als "Trainingsgebiet" besser, weil alles einen doppelten Boden hatte. Man las differenzierter, weil nicht alles gesagt werden durfte. Man schätzte es, wenn man ein Buch bekam, das nicht zu bekommen war. Durch Mängel hatte vieles eine größere Bedeutung.

Standard: Es kommt aber in Ihren Büchern auch zum Ausdruck, dass Sie Ihre Kindheit auch unter privilegierten Verhältnissen verbracht haben. Wenn Sie auf dieses Arkadien zurückblicken: Was würden Sie als beeindruckendste, prägendste Erinnerungen bezeichnen?

Erpenbeck: Es ist nicht so, dass ich die DDR vermisse. Für mich war die DDR überhaupt kein Arkadien. Man vermisst das Gute und das Schlechte einfach nur deswegen, weil man es gekannt hat. Wenn man in ein System geworfen wird, das in jeder Hinsicht neu ist, dann tritt ein existenzielles Vermissen dessen ein, was man kennt. Ich habe mich im Russischunterricht gelangweilt. Ich habe mich in den ewigen Pionierversammlungen gelangweilt. Ich habe auf diesen Ämtern rumgehockt und fand sie stinkend und furchtbar. Aber ich habe diese Sachen gekannt. Und ich glaube, dass in dem Moment, da alles auf einmal im Umbruch ist und alles, was man gelernt hat, zu nichts mehr führt, weil es nicht mehr anwendbar ist, ein Vermissen eintritt. Das ist keine Wertung. Und deswegen ist es auch ungerecht von den Westlern, zu sagen, wir seien Nostalgiker. Wir sind keine Nostalgiker, aber wir haben unsere Lebenszeit gehabt, und die war so, wie sie war. Und es gibt einen Bruch, an dem man an die Zeit nicht mehr anknüpfen kann.

Standard: Welchen Raum nimmt die DDR heute in Ihren Empfindungen ein?

Erpenbeck: Das Komische ist, dass sie, obwohl ich am selben Ort lebe, komplett verschwunden ist. Ich gehe durch die Straßen, die ich seit meiner Kindheit kenne, trotzdem ist alles anders. Wenn ich meinem Kind von der DDR erzähle, komme ich mir vor wie eine Großmutter. Dabei misstraue ich meiner Erinnerung: Wie sah eine Kaufhalle von innen aus? Ich sehe es nicht mehr vor meinem inneren Auge. Das macht mir Angst, dass die Sachen wegrutschen. Es ist wie ein Raum, der sich aus vielen handfesten wie auch geistigen Dingen zusammensetzt. Dieser Raum als Ganzes ist weg. Der Verlust macht eine Art Bilderrahmen um die Sachen, und dadurch bekommen sie einen anderen Wert.

Standard: Ihren letzten Roman "Heimsuchung" verstand ein Kritiker als "Spurensuche in den Ruinen deutscher Geschichte" . Haben Sie damit den Lebensabschnitt DDR für sich abgeschlossen oder nicht?

Erpenbeck: Ich denke, diese Themen bleiben. Eines der Motive, die in jedem meiner Bücher auftauchen, ist die Frage, wie man mit verschwundener Vergangenheit umgeht. Wie ist das, wenn die Verbindung von der Kindheit zum Erwachsensein gekappt wird? In gewisser Weise bin ich froh, dass ich etwas so Wichtiges verloren habe, es schärft den Blick für die Endlichkeit des menschlichen Lebens.

Standard: Soeben erschien der Band "Dinge, die verschwinden" - ein "Buch des Abschieds" , das auch Erinnerungen an die DDR heraufbeschwört. Wollen Sie die DDR, in der Sie lebten, festhalten?

Erpenbeck: Ich weiß nicht, ob ich sie festhalten will. Das Verschwinden interessiert mich grundlegend. Die DDR ist dafür ein gutes Beispiel, gerade angesichts solcher Utopien wie die, denen meine Großeltern gefolgt sind. Man hofft immer auf etwas, das über die eigene leibliche Existenz hinausragt und bleibt. Meine Großeltern hatten ihr Leben lang diese Hoffnung. Dennoch wird das jetzt so nivelliert. Das wirft die Frage auf, was man als Mensch erreichen kann - wie weit man auf Dauer über seine Existenz hinauswachsen kann.

Standard: Haben Sie Angst vor dem Vergessen?

Erpenbeck: Jede Sekunde verwandelt sich in der nächsten Sekunde in Vergangenheit. Das heißt, das ganze Leben verwandelt sich fortwährend in Vergangenheit und, bestenfalls, in Erinnerung. Wenn Sie jetzt hinausgehen, dann sind Sie bei mir gewesen. Sie haben nur noch die Erinnerung. Während man lebt, produziert man Erinnerung. Man hat ja ein sehr komplexes Leben. Wenn dieser Alltag an irgendeiner Stelle ein Loch bekommt, etwa durch einen Todesfall, würde man sich gerne an die ganze Komplexität, die der Alltag gehabt hat, erinnern. Das kann man aber nicht. Man erinnert sich an einzelne Bilder, nicht jedoch an das ganze Leben, weil die Erinnerung eben nicht das Leben ist. Die Erinnerung ist immer nur ein Blick zurück. Was man im Moment erlebt, bleibt nur in Bruchstücken übrig, und die Komplexität verschwindet ins Nichts. Adalbert Reif, DER STANDARD/Printausgabe 7.11./8.11.2009)