Weronika Aleksandrowna Opachowa, die Mutter der beiden Mädchen: "Sie haben nicht gesehen, wie die Leute vor Hunger umfielen, nicht, wie sie starben, Sie haben die Ladungen an Körpern nicht gesehen, die in unseren Waschküchen, in unseren Kellern, in unseren Höfen lagen. Sie haben die hungernden Kinder nicht gesehen, und ich hatte drei. Die älteste, Lora, war dreizehn."

Foto aus: "Blockadebuch"

Katharina Tiwald über ein Foto aus der Zeit der Blockade von Leningrad.

In meinen obszönsten Momenten, wenn ich mir gestatte, an Wiedergeburt in tatsächlicher und unverspielter Form zu glauben, vom einen Körper in den nächsten, neuen, denke ich: Ich muss dort gewesen sein. Eine von den Hungertoten. Anders kann ich mir dann, im vernebelten Zustand, meine Faszination an der Blockade von Leningrad nicht erklären.

Von allen grausamen Experimenten, die man mit der Menschheit (und Menschlichkeit) anstellen kann, ist das eines der größten gewesen: 1941 an die dreieinhalb Millionen Einwohner in einer abgeriegelten Stadt, über die der dunkeläugige und dunkelhaarige Führer aller Arier dekretierte, sie müsse von der Erde verschwinden. Ohne dass ein Soldat der Wehrmacht sie betrete. Bomben also – gleich zu Beginn, im Spätsommer 1941, auf die größten Lebensmittellager der Stadt, die Badajew-Speicher. Und Kälte. Hunger.

In den knapp zweieinhalb Jahren der Blockade (8.September 1941 bis 14.Jänner1944) sind wahrscheinlich über eine Million Menschen verreckt, so, dass die Massengräber zu klein wurden, so, dass die Zusammengebrochenen liegen blieben, der Schnee auf sie fiel, sie im Frühling wieder auftauchten unter dem tauenden Eis. Das war ein Kessel, in dem es nichts zu essen gab, bloß das Brot mit Sägespänen, das rationiert ausgegeben wurde. Die Hunde, Pferde, Katzen, Ratten der Stadt. Der Leim hinter den Tapeten, der damals auf Mehlbasis gemacht wurde. Ledergürtel, ausgekocht. Einige Körperteile.

Und im Mai 1942 gehen zwei Frauen mit einem kleinen Mädchen spazieren. Dem Mädchen stehen die Knie wie Kugeln aus den Beinen, aber es scheint lebhaft zu sein. Vielleicht hüpft es sogar? Die Frau in der Mitte: vielleicht Mitte dreißig. Oder vierzig. Die Frau links? Eine Frau? Ein Mädchen? Der Stock macht sie alt. Sie ist mager wie die meisten. Mager ist gar kein Ausdruck.

Der Hunger hat eine herbe Hand

Es heißt, dass der Hunger die Unterschiede zwischen den Menschen verwischt. Dass er sie gleich macht. Der Hunger hat eine herbe Hand und setzt sich an die Gurgeln. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern fallen. Die Buben haben keinen Stimmbruch und die Mädchen entwickeln keine Brüste. Es fällt die Distinktion zwischen den Ständen, zwischen Professor und Hausfrau, wie die Historikerin Lisa Kirschenbaum schreibt. Und das Alter ist nicht mehr feststellbar. Alle sind gleich alt. Die alte Frau und das junge Mädchen. Die Lebenszeit ist nicht mehr abzulesen. Sie wird plötzlich nichtig.

Das Foto mit den beiden Frauen und dem kleinen Mädchen hängt in Museen und ist in und auf Büchern abgedruckt, es ist bekannt auf der ganzen Welt. Aber wie darüber schreiben? Ich konnte mich dunkel daran erinnern, den Namen der Frau links, die so heraussticht mit ihrem hohen Stock, irgendwo gelesen zu haben. Sogar gelesen zu haben, dass sie die Blockade überlebt hatte. Ich wurde ganz aufgeregt, vielleicht würde ich sie im Telefonbuch von Sankt Petersburg finden? Sie anrufen? Und sie würde unwirsch sein und nicht gefragt werden wollen? Oder eine alte, freundliche Frau sein? Steinalt?

Und ich würde vorher meine besten Russischsätze üben, üben, wie ich sie anrufe? Wie ich ihr erkläre, warum ich mit ihr reden will? Aber wo hatte ich ihren Namen gelesen? Wo, verdammt? Während des Urlaubs am Meer die ganze Zeit einen bestimmten Bildband im Kopf und mir schon ausgemalt, wie ich heimkomme, den Bildband auf die Knie nehme, ihn aufschlage und den Namen finde. Ich kam heim, und: nichts. Bloß das anonyme Foto. Eine alt-junge Frau am Stock. Ihr Rock, flatternd wie Rabenflügel. Der monströse Schatten, den ihr angehobener rechter Fuß wirft. Der Name des Fotografen, wie immer in russischen Publikationen: der Vorname nur als Initial. Im Hintergrund, weit weg, ein paar Schemen von Menschen, eine vergitterte Tür, dazwischen eine von der Sonne grell ausgeleuchtete, sehr breite Straße, die nur durch den Schattenstrich schmäler wirkt und dadurch, dass keine Autos auf ihr fahren. Das muss der Newski-Prospekt sein, die Schlagader der Stadt, heute sechsspurig.

Ich hielt den Atem an

Ich, die ich froh bin, wenn ich zum Glühbirnenwechseln keinen Elektriker rufen muss, überlegte, die männlichen Mitglieder meiner Familie zu fragen, wie man ein Bild googelt. Und kam aber sofort, ohne Männer befragt zu haben, über die normale Bildsuche unter dem Stichwort "Blockade Leningrad" auf das Foto – und eine Website mit einem Text. Früher hat man über solche Momente gesagt: "Ich hielt den Atem an."

Es war die Erzählung von einem Gespräch mit der Frau in der Mitte des Bildes, der Mutter der beiden Mädchen, Weronika Aleksandrowna Opachowa. – Diese Erzählung entstammt dem sogenannten Blockadebuch, blokadnaja kniga, das Ales Adamowitsch und Daniil Granin geschrieben haben, im Leningrad der Siebzigerjahre. Aber darauf kam ich erst, als ich mein Exemplar des Blockadebuchs aus dem Regal gezogen hatte, grauer Einband, Hardcover, ein konstruktivistisches Muster aus goldenen Dreiecken, und die Buchstaben im Titel werfen lange Schatten. Ich wollte das Inhaltsverzeichnis überfliegen, etwas Passendes lesen und sah, allererster Blick, den Titel des Textes, der mir aus dem Internet entgegengefallen war: Unbekanntes über eine bekannte Fotografie.

Das kleine Mädchen auf dem Foto hieß (oder heißt heute noch? Geboren 1937) Dolores. Weil, so erzählt Weronika Opachowa, ihrem Mann Michail, der Soldat war und Arzt, dieser Name so gut gefiel, den die Heimkehrer aus dem Spanienkrieg mitgebracht hatten wie eine Rarität, ein Juwel (und der übrigens "Schmerzen" bedeutet, der russische Spitzname dazu, Dolja, kann "Schicksal" bedeuten oder Teil, Anteil, na toll, da schlägt die Symbolhaftigkeit zu, die Faust geht ins Auge).

Weronika Opachowa sagt zu Adamowitsch und Granin: "Sie haben nicht gesehen, wie die Leute vor Hunger umfielen, nicht, wie sie starben, Sie haben die Ladungen an Körpern nicht gesehen, die in unseren Waschküchen, in unseren Kellern, in unseren Höfen lagen. Sie haben die hungernden Kinder nicht gesehen, und ich hatte drei. Die älteste, Lora, war dreizehn."

Lora Michajlowna Opachowa also, links im Bild.

Im Dezember 1941 begannen die Lähmungen ihrer linken Seite, eine Folge des Hungers. Das Kind, das Mädchen und die Frau, erschöpft, unvorstellbar, verbrachten die letzte Zeit dieses strengen und unerbittlich kalten Winters, dieses Nazi-Agenten, der, als wolle er sie hochnehmen, viel kälter war als die Jahre davor, überwiegend im Bett. Ein schwerer Fehler in solchen Zeiten. Man stirbt. Die Ärztin, die zur Kontrolle kam, schiss sie zusammen, anders kann man das nicht sagen. Aus dem Bett. Bewegung. Zumindest in der Wohnung. (In der, wie in der ganzen Stadt, Elektrizität und Wasser abgedreht waren.)

Aus dem Bett. Bewegung

Im Frühling, in der ersten Sonne, machen sie Runden, die Essensrationen holen, über Umwege. Bewegung. Beim ersten Mal, als Lora Opachowa mit ihrer Mutter die Wohnung verlässt, sagen die alten Nachbarinnen zur Mutter: Gott sei Dank, Weronika Aleksandrowna, Sie haben überlebt, wahrscheinlich ist Lora gestorben, und Sie konnten ihre Lebensmittelkarten einlösen? – Sie haben das Mädchen nicht wiedererkannt. – Auf die Frage der Interviewer, wie alt sie auf dem Foto sei, sagt Lora Opachowa trocken: Sie erinnere sich nicht mehr. Sie glaube, gleich alt wie die Mutter gewesen zu sein. Sie sei nicht dreizehn gewesen. Dann fragen sie Lora, ob sie sich an den Hunger und ihre Krankheit erinnert. "Wie erinnern Sie sich an die Zeit, als Sie zwölf und dreizehn waren?" – Sie antwortet: "Ich glaube, das Schlimmste ist, wenn ein Mensch die ganze Zeit essen will, und es gibt aber nichts zu essen, gar nichts."

Erst dann folgen die weiteren Sätze, über das Versagen der Arme und Beine, die Unsicherheit, "ob du dich überhaupt noch bewegen und handeln wirst können", auch da ein Wegschieben mit sprachlichen Mitteln, hinein in einen Satz in zweiter Person. Über die täglichen Besuche der Ärztin, die nachsehen kam, ob Lora noch lebte oder nicht, und erst in diesem Satz der Antwort fällt ein "ich", dass das Ich von damals meint. Sie spricht kaum über sich, sie spricht über eine existenzielle Falle.

Schon klar, warum die Blockade von Leningrad so fasziniert: mich und andere. Das ist nicht nur der Heroismus, der sich einem auch heute noch auf dem Weg vom Sankt Petersburger Flughafen in die Stadt entgegenwirft, in Form eines riesigen Denkmals mit lebensgroßen Figuren, "Deiner Heldentat, Leningrad" steht darauf. Das ist die Unmöglichkeit eines erzählerischen Fadens.

Keine Klimax und Schluss. Der Schluss war die Klimax. Alles ist umgedreht. Keiner ist Erzähler, alles passiert allen. Und jeder ist Erzähler. Es ist eine Erzählung im Kollektiv: wider alles, was wir unter sauberer Narration verstehen. Unter Spannungsaufbau. Unter normal.

Das Blockadebuch wurde 1979 in der Sowjetunion veröffentlicht und enthält Erzählungen von diesem und ähnlichen Treffen mit "Blokadniki", mit Menschen, die damals in Leningrad überlebten. Die Geschichte geht so weiter, dass die Opachowas im Sommer 1942 evakuiert wurden.

Lora Michajlowna Opachowa wurde nach dem Krieg Chorsängerin. Sie bekam ein Kind, ihre Schwester Dolores im Lauf der Zeit zwei. Es gab eine weitere Schwester, die nicht mit auf diesem Spaziergang war.

In einem Nachsatz zum Kapitel heißt es, dass Lora Opachowa drei Monate nach dem Gespräch starb (also mit fünfzig). Die Autoren schreiben: "Die Blockade, selbst wenn sie jemanden ausgelassen hat, findet die Ihrigen." Damit wird aus der Blockade über eine metaphorische Verschiebung so etwas wie eine Person. Ein Ungeheuer oder ein Mensch.

Ich kann Lora Michajlowna also nicht anrufen. Sie starb in dem Jahr, in dem ich geboren wurde.

Ich bin definitiv nicht dort gewesen ...

(ALBUM – DER STANDARD/Printausgabe, 21./22.11.2009)