Arbeiten am Forschungszentrum Telekommunikation Wien (FTW) an einem interdisziplinären Forschungsansatz: Peter Reichl (links) und Raimund Schatz.

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STANDARD: Wie kann man den Ansatz der „Quality-of-Experience", den Sie am FTW verfolgen, beschreiben? Über Effizienz und User-Akzeptanz zum ökonomischen Erfolg?

Reichl: In den letzten Jahren gibt es eine klare Entwicklung, dass die Forschung, insbesondere an einem industrienahen Kompetenzzentrum wie dem FTW, tendenziell mehr auf Marktinteressen Rücksicht nimmt. Aber letztendlich ist es immer der Nutzer, der das was auf Basis der Forschung industriell produziert wird, bezahlen muss. Grundsätzlich betreiben wir hier Forschung im Sinne von Nachdenken über die grundlegenden Strukturen dieser Welt. Das Schlagwort ist für mich eher die Interdisziplinarität.

STANDARD: Das heißt?

Reichl: Aufbauend auf einem soliden technischen Know-how wollen wir in die Breite gehen. Was einerseits schwierig ist, weil man da erst einmal eine gemeinsame Sprache finden muss, andererseits haben wir hier ein Team, das in dieser Hinsicht sehr gut aufgestellt ist. Wir haben Soziologen, Psychologen, Biologen, Mathematiker, Telematiker - eben eine sehr diversifizierte Kollegenlandschaft. Unsere Art Kommunikationsforschung zu betrachten -interdisziplinär, holistisch - findet nach Jahren des Sickerns, auch bei unseren Industriepartnern Resonanz.

STANDARD: Und wie steht die Forscher-Community dazu?

Reichl: In der Community wurde schon länger darüber diskutiert. Der Quality-of-Service-Begriff wurde schon vor rund 20 Jahren eingeführt. Nur hat man sich sehr schnell auf die hart messbaren Fakten zurückgezogen, die die Menschen außerhalb der Community oft nicht direkt interessieren. Und jetzt gibt es dieses neue Schlagwort „Quality-of-Experience" (QoE). Nach diesem Begriff wurde jahrelang gesucht. Ich sehe jetzt die Chance Bereiche und Ansätze mit ins Boot zu holen, die vorher nur am Rande Beachtung gefunden haben.

Schatz: Man hat in der Forschung gemerkt, dass man mit reiner Technikzentriertheit an eine Grenze stößt. Man hat zwar auf der Quality-of-Service Ebene wohldefinierte objektive Qualität mit gut messbaren technischen Parametern wie z.B. Übertragungsverzögerung, Bit-Fehlerraten. Aber auf Dauer lässt sich die Rechnung nicht ohne den Wirt machen. Die Schönheit oder eben die Qualität liegt schließlich im Auge des Betrachters - man kommt über kurz oder lang nicht um den User herum. Diese Erkenntnis existiert in anderen Bereichen schon länger, jetzt kommt sie auch in der Telekommunikation und Nachrichtentechnik hoch, ausgelöst durch folgende Fragen: Wie wird technische Qualität, die man objektiv anbietet, vom User wahrgenommen? Kommt das überhaupt an? Oder bleibt die hohe Spitzenbandbreite, die ich anbiete, am Ende völlig unbemerkt?

STANDARD: Was ist die Konsequenz daraus?

Schatz: Man muss die Methodik ändern, um die technische Forschung mit der Nutzerforschung verbinden. Und die beteiligten Disziplinen eng miteinander verzahnen, damit das Ganze Sinn macht. Es besteht die Gefahr QoE rein nutzerzentriert zu machen und dabei wiederum die technische Ebene zu vergessen. Eine intelligente Verbindung der beiden Welten ist erstrebenswert. Und da kommt dann wieder die Interdisziplinarität ins Spiel.

Reichl: So kommen zum Beispiel soziologische Methoden ins Spiel, an die ein Techniker gar nicht gedacht hätte, mit denen wir z.B. bestimmte Qualitätsaspekte mit Hilfe indirekter Parameter bestimmen statt direkt messen können.

STANDARD: Gibt es konkrete Anwendungen?

Reichl: Wir stehen am Anfang eines großen Dialogs zwischen den Disziplinen. Wir haben erst einen Begriff, und es ist hart genug den zu etablieren. Aber die Diskussion ist am Laufen.

Schatz: Die Frage nach Anwendungen ist noch etwas zu früh gestellt. Es geht zunächst einmal darum, zu schauen, welche neuen Richtungen sich auftun, welche neuen Methoden und Erkenntnisse es gibt. Und daraus ergeben sich dann die konkreten Anwendungen. Ich leite zum Beispiel gerade ein Projekt, QoE in einem Telekommunikationskontext messbar zu machen, mit dem Methodeninventar, das uns bereits heute zur Verfügung steht.

STANDARD: Was soll dabei rauskommen?

Schatz: Wir wollen die vom Benutzer erlebte Qualität im Telekommunikationsnetz automatisch live messen. Das Ergebnis wird jedoch nicht mit primär technischen Parametern dargestellt, sondern eben wie ein User die Qualität bewerten würde, wenn man ihn fragte.

STANDARD: Demnach streben Sie eine automatische Prognose der QoE an?

Schatz: Ja. Dadurch habe ich einen 180 Grad Perspektivenwechsel, weil ich diese Qualität aus Nutzersicht messe. Das ist natürlich ein sportliches Ziel. Um das zu erreichen, müssen wir zunächst die Qualitätswahrnehmung des Benutzers vermessen - was wir momentan in Laborstudien auch machen. Die Probanden werden vor bestimmte Anwendungen gesetzt und gebeten, systematisierte Aufgaben erfüllen während wir im Hintergrund verschiedene technische Parameter (z.B. Bandbreite, Übertragungsverzögerung) variieren. Dann sehen wir, wie die Leute darauf reagieren. Deren Vorwissen, demografische Daten, all das spielt auch eine Rolle. Wir erhalten auf diese Weise eine riesige Datenmenge, aus der wir gewisse Gesetzmäßigkeiten in der Qualitätswahrnehmung herauslesen können.

STANDARD: Was ist der nächste Schritt?

Schatz: Sowohl die Nutzer-, als auch die technischen Daten werden festgehalten und dann in Beziehung gebracht. Damit wir von der technischen Ebene Rückschlüsse auf das ziehen können, was beim Benutzer ankommt.

Reichl: Diese Nutzertests sind ziemlich teuer und zeitaufwändig. Um die Erkenntnisse in Anwendungen einfließen lassen zu können, muss man das alles automatisieren.

Schatz: Auch um einmal zu klären, wie entscheidend zum Beispiel Übertragungsverzögerungen im Kontext einer konkreten Anwendung wie z.B. Web Surfen wirklich sind. Solche Fragen kann man nur mit diesen Methoden beantworten.

Reichl: Ein Beispiel dafür, dass die möglichen Anwendungen plötzlich riesengroß werden können, fällt mir gerade ein. Es ging bei dieser Untersuchung um Voice over IP-Anwendungen, die damals ganz neu waren. Hier gab es ein Problem, das man im Telefonnetz gar nicht mehr hat: die Verzögerung, den bereits angesprochenen Delay. Man kennt das von Skype. Unsere Frage damals war, ob die Wahrnehmung dieses Delays von der Interaktivität des Gesprächs abhängt. Wir haben die Interaktivität und die Quality of Experience gemessen, während wir den Delay verändert haben. Es zeigte sich überraschenderweise, dass - unabhängig von der Interaktivität - selbst bei einer großen Verzögerung die Probanden das immer noch als OK empfanden.

STANDARD: Was war das Erstaunliche daran?

Reichl: Dass möglicherweise Parameter, die seit 20 Jahren in der Telekommunikation gelten, nach einem Update verlangen. Vielleicht sind unsere Systeme falsch dimensioniert. Vielleicht sind wir durch Skype, durch den Mobilfunk toleranter gegenüber solchen Delays geworden.

STANDARD: Kaum vorstellbar, in Zeiten wo jeder jederzeit erreichbar sein sollte.

Schatz: Bislang ist die Festnetztelefonie die Referenz in puncto Sprachqualität. Beim Mobilfunk hat man öfters einmal Aussetzer und andere Probleme. Diese Dinge werden aber toleriert, weil man dafür immer und überall telefonieren kann. Der User stellt sich auf solche Umstände ein. Die Sprachqualität ist uns halt auf einmal nicht mehr ganz so wichtig - dafür ist es jetzt die Verfügbarkeit. Es geht eigentlich um einen ganz anderen Punkt - und das ist wichtig für die holistische Betrachtung: Wenn man jemanden anruft, gibt es ein pragmatisches Ziel: ich will mit dieser Person sprechen. Dieses Ziel ist aber nur vordergründig. Wenn ich zum Beispiel meine Freundin anrufe, geht's nicht nur um die gesprochenen Worte oder den pragmatischen Gesprächsinhalt, sondern ich will mit ihr eine emotionale Verbindung aufnehmen. Solche übergeordnete Ziele sollten bei der Betrachtung und Bewertung solcher Dienste ebenfalls miteinbezogen werden. Das ist gerade in der Telekommunikation sehr wichtig, weil es hauptsächlich um solche menschlichen Aspekte geht. Darum messen wir zum Beispiel auch die „soziale Präsenz" von Kommunikationsdiensten. Das sind Dimensionen, die bisher unter den Tisch gefallen sind. Ein weiteres Beispiel sind so genannte „beeps". Es gibt Leute, die rufen ihre bessere Hälfte an und legen nach einmal Läuten sofort wieder auf.

STANDARD: Tatsächlich?

Schatz: Das ist vor allem in Asien ein besonders weit verbreiteter Brauch. Das ist einfach ein Zeichen: Ich denke an Dich. Ein abgebrochener Anruf ist ein Kommunikationsakt. Wie kann man das erklären? Genau mit den vorhin angesprochenen Aspekten. Es geht demnach nicht um die vordergründige Utility, sondern auch um all das was sich rundherum abspielt.

Reichl: Ein sehr interessantes Beispiel, es zeigt auch, dass Vieles, was bei der Entwicklung solcher Kommunikationsdienste als Qualität definiert ist, vielleicht gar nicht relevant ist. Oder nicht so, wie wir das von vorneherein annehmen. Es zeigt sich beispielsweise, dass die Wahrnehmung des Nutzers in diesem Bereich nicht linear ist, das ist ähnlich wie bei vielen anderen Wahrnehmungsphänomenen: Lautstärke, Helligkeitsempfinden, Hautdruck - die Wahrnehmungspsychologie hat gezeigt, dass all dies sehr oft logarithmischen Gesetzmässigkeiten folgt, die wir auch im Bereich Quality of Experience nachweisen wollen.

STANDARD: Lassen sich interdisziplinäre Ansätze überhaupt unter einen Hut bringen? Kann man alles berücksichtigen, was eventuell relevant sein könnte?

Reichl: Ich suche in erster Linie Anregungen, den Faktor Mensch in einem technischen Umfeld besser zu verstehen.

Schatz: Wir wollen nicht die „QoE-Weltformel" entdecken. Wir arbeiten immer an konkreten Fragestellungen und Kontexten, aber wollen dabei bewusst über den Tellerrand hinausblicken.

Reichl: Was vor allem erschütternd ist, dass Interdisziplinarität seit Jahren auf der Agenda steht, aber nichts passiert! Der Forschungsbetrieb lässt meist keinen Platz dafür. Es ist ein langwieriger Prozess, der aber - da bin ich mir sicher - wenn es einmal um Anwendungen geht, Früchte tragen wird. Der Übergang von QoS zu QoE könnte sich hierfür ganz besonders eignen, wenn man ihn nicht als reinen Wechsel von einer Abkürzung zu einer anderen versteht. Mir geht es hier um mehr, um einen Paradigmenwechsel, ich nenne es die „Anti kopernikanische Wende".

STANDARD: Was ist darunter zu verstehen?

Reichl: Der Mensch soll wieder in den Mittelpunkt gerückt werden. Denn die Technik ist für den Menschen da und sollte für ihn kein Ärgernis sein. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.11.2009)