20.000 Quadratmeter Hallenfläche wurden von kreativen Köpfen in Beschlag genommen, um 35 Euro pro Quadratmeter pro Jahr ist man mit seinem eigenen Container dabei.

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Foto: iamamsterdam.com

Die IJ Kantine, eine schicke Brasserie in einer alten Backstein-Industriehalle, liegt direkt neben der Anlegestelle der Fähre, am Wasser, mit einem spektakulären Blick auf die Amsterdamer City und weitere Hafengelände. Im Sommer Terrasse mit Sandspielplatz. Täglich geöffnet ab neun Uhr.

Foto: IJ Kantine

Das Cafe Noorderlicht ist eine glashausartige Konstruktion, aus Recyclingmaterialien gebaut, ausgestattet mit Möbeln vom Flohmarkt, und liegt an einer Wiese, die bis zum Wasser reicht.

Foto: Cafe Noorderlicht

Das mächtige Eisentor der ehemaligen Werfthalle, eines Backsteinbaus aus der Blütezeit der Industrialisierung, geht knarrend auf und eröffnet ein skurriles Szenario: hunderte containerartige Raumeinheiten, aus Stahlblech, Pressspanplatten oder Rigipswänden gebaut, bunt lackiert, beklebt, besprayt, minimalistisch bis utopistisch anmutend, jede für sich ein Unikat. Wie von Kinderhand in der 20 Meter hohen Halle kreuz und quer dahingestreut, übereinandergestapelt, von der Decke abgehängt.

Dazwischen ausgemistete Couchen, Camping-Kocher, gestapelte Bau- und Arbeitsmaterialien, ein Hometrainer, eine Waschmaschine, ein gelber VW-Transporter, eine Kunstinstallation aus alten Lampenschirmen. Zusammen bilden sie die "Kunststad", das Herzstück der ehemaligen NDSM-Schiffswerft, der derzeit größten kulturellen Brutstätte der Niederlande. Gelegen im Amsterdamer Norden, getrennt von der historischen Altstadt durch den Fluss IJ, umfasst das gesamte Areal der 1984 in Konkurs gegangenen Nederlandschen Dok en Scheepbouw Maatschappij rund 86.000 Quadratmeter, wovon die Hallen rund 20.000 einnehmen. Sie sind allesamt von Vertretern der sogenannten Kreativwirtschaft in Beschlag genommen: Architekten, Designer, Multimedia-Spezialisten, bildende Künstler, Musiker, Filmemacher, Theaterproduzenten.

Die Türen zu den meisten Containern stehen offen, die Leute sind Blicke Neugieriger gewohnt. Im Inneren eines Containers, dessen Außenwände rundum mit alten Musikplakaten tapeziert sind, verbirgt sich eine Unzahl an Schlagzeugen, großen und kleinen Trommeln, Becken, Trommel-Pedalen. Eine Vintage-Sammlung von 1900 bis heute. Winnies Drumkit ist Museum, Werkstatt und Schlagzeug-Schule in einem.

Hinter einer anderen Türe verbirgt sich das junge Architekturatelier Sponge. Seine minimalistische Holzbox, gehalten in mattem Olivgrün, sticht lediglich durch den pinkfarbenen, vertikalen Namensschriftzug über die gesamte Höhe der Fassade hervor.

Im Inneren durchziehen lange, tafelartige Arbeitstische, ausgestattet mit Computern und Modellen, den Raum. Sponge repräsentieren die jüngste Generation holländischer Architekten, die zeitgemäßes Bauen als gelungene Mischung aus modernistischen Stilelementen, funktionaler Flexibilität und ökologischer Nachhaltigkeit verstehen. Mit ihrer "modul ark" etwa ist ihnen eine lässige Neu-Interpretation des Hausbootes gelungen.

In der Kunststad wird nicht nur gearbeitet, sondern werden auch House-Partys gefeiert und Aktionstheater gemacht. Überall finden sich Plakate und Flyer mit den neuesten Events. Kinder skaten und fahren in den "Straßen" Rad, Besprechungen werden beim selbstgekochten Lunch im "Freien" gehalten, auf den vielzähligen Freiflächen im Tageslicht der beeindruckenden Glas- und Stahlkonstruktion des Daches der Halle.

"Das Konzept der Kunststad ist auf dem Gedanken der Kooperation und Partizipation aufgebaut, eine kulturelle Brutstätte, die die Künstler und Kreativen fördert. Unsere Mieter können sich hier ein loses und informelles Netzwerk mit Gleichgesinnten aufbauen. Gemeinsam können sie Projekte realisieren, die sie einzeln nie bewältigen würden. Und indem sich jeder seine Einheit selbst baut und darin investiert, entsteht eine starke Bindung an das Gelände. Die meisten bleiben, wenn sie einmal hier sind, formieren Interessenverbände, treten gemeinsam gegenüber der Bezirksverwaltung und potenziellen Investoren auf", erklärt Ellen van Baal. Sie führt regelmäßig Gruppen durch das Gelände. Der Verein, der diese Touren organisiert, heißt Kinetisch Noord. Er ist Hauptmieter und Gebietsentwickler und ist aus dem Zusammenschluss jener "Hausbesetzer" entstanden, die Mitte der Achtzigerjahre nach dem Konkurs der NDSM die brachliegenden Hallen in Beschlag nahmen, geduldet von den lokalen Behörden und der Stadtregierung.

Holland galt bislang weltweit als Symbol einer außergewöhnlichen Stadtentwicklungspolitik, Amsterdam und Rotterdam als Mekka für alternative Lebensmodelle und Freiräume. Bis vor kurzem wurde das andernorts illegale Inbesitznehmen von Häusern geduldet, 1980 gab es allein in Amsterdam 20.000 Hausbesetzer, heute sind es rund 300. Vor einigen Wochen setzte die Regierung nach jahrelangen Diskussionen und unter Druck der rechtspopulistischen Partei ein Gesetz durch, das Hausbesetzung nun illegal und strafbar macht.

Kinetisch Noord ist 1999 als Gewinner eines von der Stadt ausgeschriebenen Wettbewerbes zur Entwicklung des Areals mit dem Konzept einer auf kollektiver und partizipatorischer Basis organisierten Kreativnutzung durch Künstler und Kulturunternehmer hervorgegangen. Der Verein hat mit dem derzeitigen Besitzer des Areals, dem Bezirk Amsterdam-Noord, einen Mietvertrag, der vorläufig bis 2027 befristet ist.

Die günstigen Konditionen werden an die Untermieter weitergegeben: 35 Euro pro Quadratmeter pro Jahr beträgt die Miete. Auf der angemieteten Fläche, die mit Strom und Wasser versorgt ist, kann sich jeder Nutzer seine Einheit selbst bauen und gestalten. Dazwischen gibt es viel Freiraum für soziale Begegnungen, Ausstellungsflächen, Performances, Partys. Manche schlagen aus dem Modell sogar Kapital. Die Theaterplattform PickUp beispielsweise bietet günstig vorgefertigte Raumeinheiten in unterschiedlichen Größen von 50 bis 150 Quadratmetern an.

"Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten: die Kulturschaffenden, den Bezirk Amsterdam-Noord, die Stadt Amsterdam. Der Bezirk erfährt eine Aufwertung und ist zum neuen Hotspot des Amsterdamer Kulturlebens geworden. Das zieht wiederum Investoren an. Die Stadt insgesamt unterstreicht einmal mehr ihr kreatives Image, es werden Arbeitsplätze geschaffen und die Internationalität erhöht", sagt Ellen van Baal.

Zurück im Freien erinnern die verrosteten Rampen, Kräne und Docks an den ehemaligen Schiffsbau. Im Sog der Kreativnutzung der Hallen haben sich eine Reihe kommerzieller Anbieter rundherum angesiedelt. MTV Networks hat sich ein schickes Headquarter samt Studio hingestellt. Lokale wie die IJ-Kantine oder das Café Noorderlicht ziehen die Amsterdamer Szene an. Das Botel, ein schwimmendes Hotel in einem umgebauten Binnenschiff, ist im Jahr 2007 hierher übersiedelt. Ein 2000 m2 großer Skatepark ist auf Stelzen in einer Höhe von sieben Metern in eine der Hallen eingezogen. Die Transformation eines vormals industrialisierten Geländes in eine moderne, nachhaltig funktionierende urbane Landschaft scheint vorerst gelungen. Wo andernorts brachliegende Hafengebiete zu spekulativen Immobilienprojekten auf dem Reißbrett entworfen werden, setzt Amsterdam auf den Charme des Kreativen und organisch Gewachsenen. (Doris Rothauer/DER STANDARD/Printausgabe/28.11.2009)