Der Tramp, ein flexibler Außenseiter: Charles Chaplins bekannteste Figur.

Foto: Filmmuseum

Wien - Der Legende nach soll alles ganz schnell gegangen sein. Für eine Komödie der Keystone-Studios wollte ein junger britischer Variété-Künstler einmal ein anderes Kostüm ausprobieren. Unmittelbar vor Drehbeginn suchte er rasch noch die Garderobe auf und bediente sich aus dem, was er dort fand. Hinein ging er als Charles Spencer Chaplin. Heraus kam er als der Tramp. Eine viel zu weite Hose, ein zu enges Jackett, ein Paar zu großer Schuhe, eine Melone, ein Spazierstock und ein Bärtchen, das ihn älter wirken lassen sollte, ohne die Mimik zu verdecken. Kleider machen Leute - das gilt für Könige wie für Landstreicher.

Chaplins Figur war sofort wiedererkennbar, weil nichts an ihr zusammenpasste. Die übergroßen Schuhe nicht zu den Füßen, was den typisch gespreizten Gang zur Folge hatte. Die von einem Gentleman geliehenen Gesten nicht zu dem abgewetzten Äußeren. Der zu dünne Spazierstock nicht zu dem Stoffbeutel, der daran befestigt war und in dem der Vagabund eine Handvoll Habseligkeiten mit sich führte. Um Chaplin zu zitieren, reicht es, ein paar Schritte im Watschelgang hinzulegen, nach rechts und links schwankend, als wäre man nicht auf einer staubigen Straße unterwegs, sondern auf einem schwer schlingernden Schiff kurz vor dem Untergang.

Weil er an seinen Gesten sofort wiedererkennbar war, brauchte der Tramp auch im Zeitalter des Tonfilms nicht zu sprechen. Erst in Modern Times, bei seinem letzten Auftritt 1936, bekam der Tramp eine Stimme - allerdings eine, die sich in unartikuliertem Gesang verliert, in einem parodistischen Mischmasch aus italienischen und französischen Versatzstücken.

Für die modernen Zeiten war der Tramp nicht mehr gemacht. Sie verlangten zu viel von ihm. In den 87 Minuten des Films sehen wir Charlie als Fließbandarbeiter, Wachmann in einem Kaufhaus, wieder Fabrikarbeiter, dann Kellner und schließlich Sänger. In all diesen Jobs kann er sich durchmogeln, für keinen ist er gemacht. Der Durchgang von monotoner Industrieplackerei über kurzfristige Anstellungen im Sicherheits- und Dienstleistungsgewerbe beschreibt dabei überraschend genau die Entwicklungen der Arbeitswelt seit den Dreißigerjahren: weg von den Abhängigkeitsverhältnissen in einer fordistisch organisierten Industrie, hin zur prekären Scheinselbstständigkeit in den deregulierten Branchen immaterieller Arbeit. Die Prekarisierten dürfen Charlot als einen Vorläufer denken.

Zum Agitator einer sozial gerechteren Welt taugt der Tramp allerdings nicht. Nur aus Zufall hebt er die rote Fahne auf und wird so zum unfreiwilligen Frontmann der protestierenden Arbeiter. Der Watschelgang wird sich nie in den Gleichschritt einer Demonstration einfügen lassen. Chaplins Figur ist ein Fürsprecher aller Ausgeschlossenen, aber sie bleibt dabei der liberalen Überzeugung des Individualismus verpflichtet. Der Tramp war immer eine Botschaft an die ganze Menschheit, nicht an eine soziale Klasse. (Dietmar Kammerer, DER STANDARD/Printausgabe, 09.12.2009)