Der Filmemacher Joris Ivens bei seinem letzten Film "Eine Geschichte des Winds"

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"Wir fahren nach Valparaíso!" - ein altes Seemannslied gibt das Ziel vor, um das sich zahlreiche Legenden ranken. Die chilenische Hafenstadt, die sich auf nicht weniger als 42 Hügeln ausbreitet, ist auch eine architektonische Kuriosität. Überall kriechen Lifte steile Hänge hoch, manche davon reißen irgendwo zwischen Himmel und Erde wieder ab, überall räkeln sich Stiegen durch die engen Gassen.

Der niederländische Dokumentarist Joris Ivens hat die flirrende Metropole im Jahr 1963 besucht, tagelang durchstreift und schließlich in seinem Film Valparaíso, praktisch mitten in der Bewegung, festgehalten. Es ist einer der schönsten Städtefilme überhaupt, mehr ein Kaleidoskop, ein Breughel'sches Mobile als ein gängiges Porträt. Motive werden gebündelt und im fliegenden Rhythmus aneinandergereiht - man steigt hinauf in die Dörfer und fließt mit der Menge wieder herunter; zu den räumlichen Gegensätzen kommen soziale, denn je höher man steigt, desto ärmer werden die Menschen.

Kurz vor Ende - der poetische, weltoffene Off-Kommentar des Filmessayisten Chris Marker bringt die blutige Piratenvergangenheit ins Spiel - springt der Film von Schwarz-Weiß auf Farbe. Ein charakteristisch kühner Sprung Ivens', der sich stets als ein Dokumentarfilmer begriff, der die Wirklichkeit neu erschaffen wollte - ohne dass er dabei auf politisches und soziales Engagement vergaß.

Berühmt machten ihn schon seine ersten, noch vornehmlich lyrisch-experimentellen Filme aus den späten 20er-Jahren, Die Brücke und Regen - Letzterer ein Filmgedicht über den Ausdruck, den ein Wetterwechsel über das Gesicht einer Stadt (in diesem Fall Amsterdam) legt. Wetter, Regen, Wind und die so kreative wie zerstörerische Gewalt des Menschen - solche Kräfte, welche die äußere Erscheinungsform der Welt verändern, beschäftigten ihn ein Leben lang. Eine Geschichte über den Wind hieß seine letzte, mit Marceline Loridan gefertigte Arbeit.

Die mit großer editorischer Sorgfalt erstellte DVD-Box Joris Ivens: Weltenfilmer ermöglicht nun erstmals einen faszinierenden Überblick über die Arbeiten dieses zentralen Dokumentaristen des 20. Jahrhunderts. Sie konfrontiert mit einem Werk, das auch eine Geschichte der Verwerfungen beschreibt, von enttäuschten Utopien, von Hoffnung und Kampf der Völker auf Eigenständigkeit.

Krieg und Überlebenskampf

Spanische Erde, 1937 während des Bürgerkriegs gedreht, war der erste parteiliche Film Ivens', mit dem Ziel, die Unterstützung der USA für die Regierung zu sichern. Ivens war ein Dokumentarist, der sich für Rekonstruktionen, also inszenierte Passagen, aussprach, wenn es die innere Wahrheit denn benötigte. So stellte er mit der Dorfbevölkerung Szenen nach, umgekehrt wies er umso nachdrücklicher auf den unmittelbaren Ausdruck der Männer an der Front hin.

30 Jahre später, 1968, in Vietnam, filmt er mit Marceline Loridan in Der 17. Breitengrad in den unterirdischen Tunnelbauten von Bauern und Soldaten, einer Parallelwelt, in der Menschen mit unerschütterlichem Überlebenswillen ausharren. In einer unerhörten Szene tobt draußen der Bombenangriff der Amerikaner, während unten ein Theaterstück gespielt wird. Bilder wie diese, aus der Tiefe eines dunklen Jahrhunderts, machen Ivens' Größe aus. (Dominik Kamalzadeh/ DER STANDARD, Printausgabe, 11.12.2009)