Trennt strikt zwischen Poesie als Kitsch und wirklicher Literatur: László F. Földényi.

Zur Person:
Der Budapester Essayist, Literaturwissenschafter und Übersetzer László F. Földényi (57), Verfasser unentbehrlicher Handbücher über Heinrich von Kleist und Imre Kertész, gastiert am Freitag, 11.12., im "Reflektorium" des Wiener Burgtheaters (Vestibül, 20.30 Uhr): Er spricht mit Stefan Zweifel über "Das Unsagbare" in der Literatur.

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Wie man über den Totalitarismus schreibt, erläuterte er Ronald Pohl.

Standard: Die Frage, ob Literatur die Erfahrungen des totalitären 20. Jahrhunderts aufheben kann, beantworten Sie in Ihrem Kertész-Wörterbuch wie folgt: Gewisse Dinge können nicht "wiedergegeben" werden, Literatur kann nur Erfahrungsberichte liefern. Wie würden Sie dieses "Protokollieren" - etwa mit Blick auf Kertész - beschreiben?

Földényi: Die Literatur ist in Verdacht geraten, schreibt Kertész, und fügt hinzu: "Es ist zu fürchten, dass die ins literarische Lösungsmittel getauchte Form nie wieder ihre (...) Lebendigkeit zurückgewinnt". Von welchem Standpunkt aus auch immer er sich ihr nähert, die Literatur weckt in Kertész meist kein Vertrauen. Statt einen dem Verständnis des Lebens näher zu bringen, entfernt sie einen davon.

Kertész unterscheidet zwischen zwei Arten von Literatur: jener, die ein Ausdruck des seines Schicksals beraubten Menschen ist, und jener, die beweisen will, dass der Mensch auch nach der Erfahrung von Auschwitz und Gulag die Möglichkeit hat, über sein Schicksal selbst zu entscheiden. Die erste, die klassische Tradition der europäischen Literatur, hat die Vorteile der Individualität hervorgehoben: Sie glaubte daran, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist. Die Erfahrungen des Kollektivismus benötigen jedoch eine andere Art von Schreiben. Schicksallosigkeit bedeutet für Kertész, vom Kollektivismus bedrängt zu sein - was ein Grundphänomen des 20. Jahrhunderts ist, unabhängig davon, ob man in einem totalitären oder demokratischen System lebt.

Wie schildert man jenen Zustand, in dem - mit den Worten des russischen Lagerautors Warlam Schalamow - der Mensch kein Ebenbild von Gott ist und nicht einmal als "unmenschlich" bezeichnet werden kann, aus dem einfachen Grund, dass er nicht mehr Mensch ist? Die Gefangenen im Gulag oder im Auschwitz gleichen keinem Menschen, aber auch keinem Gott. Die Prosa von Kertész oder Schalamow würde ich in diesem Zusammenhang nicht so sehr als Literatur bezeichnen, sondern eher als Zeugnis. Zeugnis geben heißt, sich nicht die Perspektive der Sieger (der "Überlebenden"), sondern die der Opfer (der Toten) zu eigen zu machen.

Standard: Gibt es Ihrer Meinung nach Maßstäbe für das Gelingen? Inwieweit muss man dabei moralische und ästhetische Gesichtspunkte voneinander trennen?

Földényi: Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts waren keine Verkehrsunfälle der europäischen Geschichte, sondern sie sind folgerichtige Auswüchse jener Massengesellschaft, die unsere Zivilisation im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, und in der die Menschen sich immer weniger an religiöse Werte oder moralische Regeln gebunden fühlen. Die große Möglichkeit der Literatur liegt in der Darlegung dieser Illusionslosigkeit. Es war Dostojewski, der während seiner Verbannung in Sibirien erkannte, dass die Geschichte ihr Wesen gegenüber denjenigen preisgibt, die sie vorher ausgestoßen hat. In seinen Romanen durchwandern die Menschen jede vorstellbare Hölle, um zu erfahren, was es überhaupt heißt, ein Mensch zu sein. Heute geht es natürlich nicht darum, einfach die Massengesellschaft als "höllisch" zu beschreiben; das wäre lächerlich. Eher sollte man in der Globalisierung die Überzeugung wach halten, dass die Freiheit nicht nur eine politisch-wirtschaftliche, sondern auch eine metaphysische, existenzielle Bedeutung hat. Das scheint heutzutage am meisten vergessen zu sein. Wenn das bei Autoren wie Dostojewski, Kafka, Schalamow wach gehalten wird, dann kann ich moralische und ästhetische Gesichtspunkte nicht voneinander trennen.

Standard: Die Kargheit, die Kertész' Literatur auszeichnet, findet ihr Gegenstück in Herta Müllers "Atemschaukel". Man hat Anstoß genommen an Müllers Wortfindungen - man denke an das Wort "Hungerengel". Führen unterschiedliche Wege zum literarischen Ziel? Anders gefragt: "Muss" man heute, die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts im Blick, "atonal" schreiben?

Földényi: "Hungerengel" ist eines der Lieblingswörter von Nobelpreisträgerin Herta Müller. Für mich ist das eine narzisstische Metapher. Letztendlich wird durch sie nicht der Hunger beschrieben, sondern bewiesen wird die Fähigkeit der Verfasserin, fortwährend ungewöhnliche Metaphern zu produzieren. Narzisstisch wirken sie, weil ich merke, dass die Verfasserin einfach genießt, wie edelklingend sie über jedes beliebige Thema schreiben kann.

Dieser Narzissmus ist für mich gleichbedeutend mit Kitsch; beim Kitsch besteht immer eine Kluft zwischen dem Thema, das beschrieben wird, und dem Stil. Müller könnte mit denselben erfundenen Metaphern auch vollkommen andere Themen ebenso "schön" beschreiben - die poetische Kraft ihres Stils entwickelt sich nicht aus dem Thema, sondern steht schon vorher selbstständig da. Wenn ich jetzt Müller mit Kertész oder Schalamow vergleiche, dann fällt auf, dass bei den Letzteren das Schreiben nicht von der Idee einer gehobenen "Literatur", sondern von fast physischem Zwang bestimmt ist - dem Zwang des Berichterstattens. Dieser Zwang verbietet es ihnen, "Literatur" im herkömmlichen Sinn zu betreiben. Sie alle sind vom Thema durchtränkt: Sie wurden von ihrem Thema auserkoren. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.12.2009)