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Hunger nach Gerechtigkeit, Glück und einem eigenen Leben im Anderswo: J. M. G. Le Clézio.

Foto: REUTERS/Bob Strong (SWEDEN)

Als J. M. G. Le Clézio 2008 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, war er einigen Kritikern im deutschen Sprachraum wenig bekannt, im französischen hochangesehen, dort seit langem bei Medien, Fachleuten und Publikum gleichermaßen geschätzt. Und als er bei seiner Nobelpreisrede auf die wichtigen Geschichtenerzähler aus allen Kontinenten verwies, kam in Frankreich gerade sein neuer Roman Ritournelle de la faim in die Buchhandlungen. Nun ist er unter dem weniger passenden Titel Lied vom Hunger in der ansprechenden Übersetzung von Uli Wittmann auf Deutsch erschienen.

Er handelt von einer starken Frau, die "ungewollt mit zwanzig Jahren eine Heldin war", wie der Erzähler aus seiner heutigen Sicht mitteilt. In der schweren Zeit zwischen 1935 und 1945 kämpft Ethel Brun in Paris und Nizza darum, sich und die Eltern über Wasser zu halten. Ihr Vater Alexandre, ein aus Mauritius stammender Träumer, hat sein und auch ihr Erbe durchgebracht, während Frankreich von Hitlers Truppen besiegt wird, besetzt ist. Unfähig zieht er sich in Alter, Krankheit, Lehnstuhl zurück, seine Frau Justine hat - wie Le Clézio fein zwischen den Zeilen erahnen lässt - ihre Kräfte fast aufgebraucht, indem sie sich vergeblich den Plänen ihres Mannes widersetzte. Zudem war wie ein Unglücksrabe Vaters frühere Geliebte, eine abgetakelte Sängerin, wieder aufgetaucht.

Alles verloren

Die Last des Schlamassels trägt Ethel, deren Perspektive der Roman folgt. Le Clézio, der Erzählbögen meisterhaft zu spannen weiß, gibt seinem Ritornell eine Ich-Klammer des ersten und des letzten kurzen Abschnittes: "Ich weiß, was Hunger ist", lautet der Beginn mit dem folgenden dreimaligen Ansatz "Als Kind ..."; "Die letzten Takte des Boléro sind voller Spannung", hebt der Schlussteil an. Und die Exposition der Geschichte von Ethel setzt mit der Exposition coloniale ein, der Kolonialausstellung, also mit der Kulisse einer alten Zeit. Deren Exponat, das die Schwärmerei der halbwüchsigen Ethel ebenso anregt wie die Tochter einer in Armut exilierten russischen Gräfin, vermodert hinten im Garten des Großonkels. Mit dessen Tod sind auch die guten Jahre des Wohlstands vorbei. In Le Clézios klarem, melodiösem Stil heißt es: "Elle n'avait pas quinze ans, elle venait de tout perdre" ("Sie war noch keine fünfzehn Jahre alt und hatte gerade alles verloren").

Mit dem Niedergang, der im mittleren der drei Teile des Romans zunächst kaum merklich, dann unausweichlich erfolgt, steigt in Ethel dieser Hunger auf, der erst später tatsächlich dem Mangel an Essbarem geschuldet ist. Im Grunde ist es ein Hunger nach Gerechtigkeit, nach Glück, nach einem eigenen Leben im Anderswo - zunehmend unterlegt von einem Basso continuo des auch in Vaters Salon geäußerten Antisemitismus, der Deportationen. Mit der Beschleunigung der Geschichte steigert Le Clézio den Rhythmus der Erzählung. Großartig, wie er das Salongerede der späten Dreißigerjahre mit allerlei Untertönen in Alexandre Bruns Wohnzimmer erstehen lässt: "Je weiter es mit ihrer Familie abwärts ging, desto öfter kamen Ethel wieder diese lärmenden Stimmen in den Sinn, diese absurden überflüssigen Gespräche, diese ätzende Säure, die den Fluss der Worte begleitete".

Die Träume zerbrechen, in der Umwelt ist die Zerstörung konkret, sichtbar. Die Deutschen haben Paris besetzt, der Besitz der Familie wird versteigert. Ethel flieht mit den hilflosen Eltern nach Nizza, nachdem sie mit Chopins Nocturne endgültig Abschied von der Jugend genommen hat. Inmitten des Niedergangs setzt Le Clézio eine leichte Gegenbewegung an, die Liebe zu Laurent, der dann in der englischen Armee in den Krieg zieht und Ethel eine gemeinsame Zukunft in Kanada als Hoffnung schimmern lässt. Ihrer beider Tage am Meer versieht Le Clézio mit Bildern, die poetisch erheben und zugleich am Boden der Realität bleiben: "Die rollenden Wellen am Strand waren wie ein laufender Motor, der die Meeresplatte hinter sich herzog und die Welt unwiderstehlich umwarf."

Die Trümmer der Welt äußern sich in den zitierten "Judenerlässen" der Vichy-Regierung, in Deportationen wie jener, bei der Abertausende in das Pariser Radstadion Vélodrome d'Hiver gepfercht wurden, zum Transport ins KZ. Unter den Opfern befand sich Laurents Tante. Diese Erinnerung - im Gegensatz zur schwärmerischen an eine schöne Vergangenheit in einem mythisierten Mauritius im ersten Teil des Romans - bestimmt das starke Ende. Wie ein Ritornell, dem Le Clézio einen Ausdruck hoher Sprachkunst verliehen hat. Der Boléro, bei dessen Premiere die Mutter des abschließend erzählenden Ich zugegen war, "diese wiederholte, eindringliche, von Rhythmus und vom Crescendo kraftvoll durchsetzte Phrase", habe für diese Generation eine Geschichte von Zorn und Hunger wiedergegeben: "Und wenn er in einem Auflodern von Gewalt endet, ist die darauf folgende Stille für die betäubten Überlebenden furchtbar." (Klaus Zeyringer, DER STANDARD/Printausgabe 12.12./13.12.2009)