Der aus Wien gebürtige israelische Schriftsteller Amos Elon sprach vom "Unbehagen in der Assimilation". In einem Kapitel seines Buches Zu einer anderen Zeit über das deutsch-jüdische Verhältnis schilderte er die Situation der deutschen jüdischen Bourgeoisie gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Integration war den Bürgern teilweise gelungen, sie zählten zu den Stützen des Landes.

Das Verhältnis zur sie umgebenden Gesellschaft war aber immer noch zweispältig, und Ambivalenz fühlten sie auch gegenüber den zuwandernden Glaubensgenossen aus dem Osten. Einerseits empfanden sie sie als störend, da eben keineswegs integriert, und wollten sich "abgrenzen". Andererseits sahen sie es als ihre Aufgabe an, den notleidenden Neuankömmlingen zu helfen.

Was Elon hier nur kursorisch behandelt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als vielschichtige Entwicklung. Je nachdem, wohin und wann die Juden aus dem Osten freiwillig zogen oder flüchteten, kam es zu ganz unterschiedlichen Szenarien der Integration bzw. Ausschließung.

Das Symposium "Jüdische Migration in europäische Metropolen 1848 bis 1918: vergleichende Perspektiven" brachte am vergangenen Wochenende mehr als 30 Forscher aus Europa, Amerika und Israel nach Wien zu einem Resümee ihrer Arbeiten. Ingo Haar, der wissenschaftliche Leiter der Tagung, rückte den komparativen Zugang ins Zentrum - und die zeitliche Abfolge.

Zunächst muss nämlich zwischen Binnenmigration und Zuwanderung von außen unterschieden werden. Auf den Fall der österreichisch-ungarischen Monarchie bezogen, gab es ab 1848 freie Bewegung innerhalb des Reichs; Juden aus dem Burgenland, der Slowakei, Budapest, Galizien zogen nach Wien, ihre Anzahl hielt sich jedoch in Grenzen.

Die einschneidenden Daten für rasant anschwellende Bevölkerungsbewegungen waren die Pogromwellen 1881/82, 1891/92 und 1905 im "Ansiedlungsrayon", dem russischen Gebiet zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, in dem Juden wohnen durften. Als man in Mittel- und Westeuropa von den ersten Pogromen hörte, waren es vor allem Gerüchte, und nur wenige Flüchtlinge trafen tatsächlich in Wien oder Berlin ein.

Hilfe aus dem Westen

Der Grund dafür, so Haar, war, dass Flüchtlingshilfsorganisationen der Alliance israélite schnell handelten und die Menschenströme lenkten. "Das waren", sagt der Forscher, der mithilfe eines Lise-Meitner-Stipendiums des FWF die Entwicklungen in Wien und Berlin vergleicht, "erste, selbstorganisierte Initiativen zur Unterstützung; heute würde man von NGOs sprechen."

Die Alliance etablierte vor Ort Komitees, die vor allem Kandidaten für Übersee "selektierten": In Brody vor allem, damals im österreichischen Westgalizien nahe der russischen Grenze, bekamen alle eine Schiffspassage nach den USA, die ein Handwerk beherrschten oder sonst wie auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt gebraucht wurden. "Alte, Kranke und Leute ohne Ausbildung wurden repatriiert", so Haar (ein Ministerwechsel in Russland verhinderte das Schlimmste und ermöglichte die Neuansiedlung der meisten). "Das heißt, das stereotype Bild vom Ostjuden war damals ein Phantom, weil die Auswanderungsströme zum Großteil an Mittel- und Westeuropa vorbeigeschleust wurden."

Erst die Pogrome 1905 ließen die Zahl der Flüchtlinge anschwellen; allein in Brody warteten 200.000 auf Hilfe von außen, und obwohl wiederum viele nach Nord- und Südamerika weiterzogen, blieben diesmal auch immer mehr in den europäischen Großstädten.

Wie unterschiedlich deren Bewohner reagierten, darüber referierten die zum Symposium angereisten Wissenschafter. Aus deren Unterlagen geht hervor, dass die Flüchtlinge in Paris und London besser integriert wurden als in Mitteleuropa. Den vergleichenden Studien zufolge lag das an einem höheren Grad demokratischer Selbstorganisation und kommunaler Traditionen. Die jüdische Emanzipation war schon erfolgt, als sie im deutschen und österreichischen Reich erst einsetzte, die Öffnung gegenüber nichtchristlichen Gesellschaften ging weiter. Ähnliches konnte ein Referent über die niederländischen Zustände sagen.

Außerdem kam die finanzielle Hilfe überwiegend aus dem Westen, vor allem von den Rothschilds in Paris (wo auch die internationale Zentrale der Hilfsallianzen ihren Sitz hatte), allerdings auch von der Stiftung des Wiener Barons Hirsch.

Prag war insofern ein Sonderfall, als es dort zum einen bereits eine große jüdische Gemeinde gab, die sich aus Binnenwanderungen rekrutierte und als Teil der Gesellschaft galten. Zum anderen war Prag für die Migranten aus dem Osten weniger interessant als andere Städte, in denen die Arbeitschancen größer waren.

Unter anderem wegen der geografischen Nähe flüchteten litauische Juden nach Schweden und Dänemark, allerdings nur in geringer Anzahl, und sie wurden laut einer Studie in den neuen Heimatländern gut integriert.

Die nächsten Schritte nach dem Symposium sind, sagt Haar, "herauszufinden, welche Modelle effektiv waren in der Integration, wo ethnische Separation entstand und wo nicht. Die übernächsten Schritte werden dann die Rückkehrer betreffen: Migration war ja keine Einbahnstraße. Die Frage stellt sich, zu welchen Bereicherungen der Kulturen und zu welchen Schwierigkeiten Rückkehrer beigetragen haben und beitragen können."

Wie Haar am Rande erwähnt, wird das Wiener jüdische Vereinsleben bald besser studiert werden können. Moskauer Archive werden demnächst tausende diesbezügliche Akte an die Republik Österreich und die israelitische Kultusgemeinde restituieren. Es bleibe sehr zu hoffen, sagt Haar, dass sie frei zugänglich sein werden. (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 16.12.2009)