"Songs for Joy", die wichtigste und berührendste Veröffentlichung im Schlagergenre seit mindestens 30 Jahren

Foto: Staatsakt

Die deutschen Musiker holen sich den Mann und die Frau von der Straße als Stars ins Studio.

Das Konzept ist so ehrenvoll wie bestechend: "Am Anfang stand folgende Idee: Wir machen Musik in einem öffentlichen Studio! Jeder ist eingeladen! Fremde schicken uns ihre Texte, Gäste kommen und singen. Freunde bringen ihre Instrumente und spielen mit. Jedes Lied bekommt gute drei Stunden höchste Aufmerksamkeit, dann aber ist es fertig. Die Texte und die Gäste nicht bewerten, sondern bewirten. Machen, machen und lachen!"

Die deutschen Musiker Carsten Meyer alias Erobique sowie Jacques Palminger und Chris Dietermann bauten drei Jahre lang zwischen 2007 und 2009 jeweils im Oktober im Berliner Maxim Gorki Theater ein Tonstudio auf und luden über Radiospots und Zeitungsannoncen Menschen ein, ihnen doch Gedichte, Songtexte, Lieder zu schicken, um diese dann zu vertonen. Die subjektiv besten wurden ausgewählt, arrangiert, komponiert. Im besten Fall wurden sie von den Autoren selbst eingesungen. Manchmal schauten auch Schauspieler mit Tagesfreizeit vorbei und übernahmen das Mikrofon.

Wie man jetzt nachhören kann, ist dabei eine der bezauberndsten deutschsprachigen Produktionen der letzten Zeit herausgekommen.

Die 15 darauf enthaltenen Stücke stellen die Hobbymusiker und -komponisten keinesfalls bloß. Und schon gar nicht geht es hier um das Casting-Show-Unwesen und etwaige Höchstleistungen. Bei diesen "Songs for Joy" zählt tatsächlich der Spaß an der Freude. Die Ergebnisse sind deshalb auch weit entfernt von sonst in Deutschland dank Xavier Naidoo oder Ich + Ich so beliebten Antäuschungen von Ergriffenheit und Perfektionswahn, der deutsche Soulmusik Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausend nun einmal ausmacht.

Mit wackeligen, allerdings dank der meist auf Klavier, Bass und Schlagzeug fußenden Arrangements von Carsten Meyer immer würdevoll bleibenden, nicht verbildeten Stimmen weisen Lieder wie die großartige Liebeshymne "Katrin und Lars (Haben seit zwei Jahren Spaß)" auf ein in der Musik weitgehend verlorengegangenes Gut hin. Dieses ist noch immer dazu imstande, die Herzen zu rühren. Es geht um Mut zur oft erschreckenden Offenheit. Kunst ohne Schutzschild und doppelten Bogen. Unironische, ernsthafte, weil die eigenen Gefühle ernst nehmende Musik: "Wir lernten uns kennen vor genau zwei Jahren, als wir im Internet beim Surfen und Texten waren. Erst schrieben wir uns so ein Vierteljahr, dann trafen wir uns, einfach wunderbar. 'Die sieben Zwerge' im Colosseum, der beste Film in meinem ganzen Leben. An diesem Abend haben wir uns das erste Mal geküsst, ich wusste gar nicht, wie schön das ist."

Verhärtete Herzen werden sich von dieser CD entsetzt abwenden. Menschen mit einer Affinität für jene 20, 30 guten deutschen Schlager aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die es da draußen tatsächlich gibt (unter besonderer Berücksichtigung des gebürtigen Grazers Christian Anders!), erleben hier nicht nur ein Schon-Gesehen, wie der Franzose sagt. Es setzt auch ein Aha.

Weitere Highlights: der schmuck-knorrige Berlin-Lobgesang "Und immer wieder bin ich nichts" ("Nicht jede Raupe wird ein Schmetterling"), der Disco-Hit "Nett" ("Nett ist die kleine Schwester von Scheiße") oder die Blondie-Paraphrase "Rufe mich" ("Ich könnte dein Feind sein. Doch bei jedem Atemzug befrei ich dich von deinem Fluch. Wenn du soweit bist, musst du nur: Rufen, rufen, rufe mich"). In diesem Sinne: Friede. (Christian Schachinger / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25./26./27.12.2009)