Eines haben die Länder des Westbalkans gemeinsam: Alle wollen sie Mitglieder der Europäischen Union werden. Dieses realpolitische Zukunftsprojekt verpflichtet Politiker auf allen Seiten nicht nur, Reformen durchzuführen, sondern auch zu leidenschaftslosen, pragmatischen Beziehungen mit den Nachbarstaaten. Dies scheint die schwierigere Aufgabe zu sein.

Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren sind nämlich in keinem der heute unabhängigen Staaten aufgearbeitet, Vergangenheitsbewältigung beschränkt sich darauf, stets nur auf die Verbrechen des anderen hinzuweisen, das Verständnis von Schuld und Sühne ist grundverschieden, man sieht stets nur sich selbst in der Opferrolle. Die Klage Kroatiens, das schon mit einem Bein in der EU ist, gegen Serbien, und die Gegenklage Serbiens, das am 22. Dezember den Antrag zum EU-Kandidatenstatus eingereicht hat, drohen wieder die Büchse der Pandora zu öffnen. Denn man verklagt einander vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag IGH wegen Völkermords, ethnischer Säuberung und Kriegsverbrechen. Dies wird nicht nur die mühsam aufgebauten, recht guten bilateralen Beziehungen belasten, sondern könnte sehr wohl auch die europäische Integration beider Länder verlangsamen.

Denn spätestens nach dem leidenschaftlichen - und noch ungelösten - Grenzstreit zwischen Slowenien und Kroatien, als Slowenien die Beitrittsverhandlungen des Nachbars fast ein Jahr lang blockierte, wird die ohnehin erweiterungsmüde EU Staaten mit ungelösten gegenseitigen Konflikten nur mit äußerster Vorsicht, wenn überhaupt, aufnehmen.

Ungelösten (völker-)rechtlichen Streit, neben dem der slowenisch-kroatische Grenzkonflikt harmlos ausschaut, gibt es auf dem Westbalkan, wo immer man hinschaut. Serbien bestreitet vor dem IGH die Unabhängigkeit des Kosovo, der Prozess ist im Gange. Prishtina erwägt eine Völkermordklage gegen Serbien zu erheben. Der EU-Beitrittsprozess Mazedoniens ist wegen des Namensstreits mit Griechenland völlig festgefahren.

Belgrad hatte sogar die Nato, die Serbien 1999 bombardierte, wegen Völkermords verklagt - der IGH erklärte sich 2004 für nicht zuständig. Der IGH hat aber im Februar 2007 festgestellt, dass Serbien keinen Völkermord in Bosnien begangenen hätte, jedoch dafür verantwortlich sei, dass es den Genozid an Muslimen in Srebrenica 1995 nicht verhindert hat. Der Urteilsspruch blieb ohne Folgen für Serbien und löste Empörung in Bosnien aus.

Kroatien und Serbien waren nicht in der Lage, die Frage der Kriegsverbrechen mit diplomatischen Mitteln zu lösen oder der nationalen Justiz den Prozess zu überlassen. Zagreb, das noch 1999 Serbien verklagte, konnte die Anklage nicht zurückziehen, weil es die Reaktion der eigenen Bevölkerung befürchtete. Und Belgrad hielt sich an das Motto, dass Angriff die beste Verteidigung ist. (Andrej Ivanji aus Belgrad/DER STANDARD, Printausgabe, 4.1.2010)