An der schönen Valentina (Lily Cole) hat der Teufel sein Interesse bekundet.

Foto: Constantin

Wien - Wer spät in der Nacht aus einem Club auf die Straße tritt, wird nicht immer gleich in die Wirklichkeit zurückfinden. Man muss den Zeitsprung erst einmal verkraften zwischen drinnen und draußen, zwischen einer Welt mit eigenen Gesetzen (und Drogen) und einer Welt, in der für alle das Gleiche gilt. Und wenn dann vor den Türen des Nachtclubs noch ein seltsames Varieté herumsteht, wie zu Beginn von Terry Gilliams Film Das Kabinett des Dr. Parnassus, dann darf es niemanden wundern, wenn einer der Nachtschwärmer halb trotzig, halb ängstlich unbedingt hinter den Vorhang sehen möchte, der in dieser Show die große Attraktion ist.

Hinter dem Vorhang befindet sich nämlich ein Reich der Imagination. Alles, was sich die Seele ausmalt, ist hinter dem Vorhang Realität. Terry Gilliam ist vielleicht der letzte Gaukler alter Schule im alten Medium Film. Er hält gegen viele Widerstände daran fest, dass das Kino von den Märchen abstammt (über die Brüder Grimm hat er einen Film gemacht), dass der Wirklichkeitsverweigerer Don Quijote im Recht war (ein Filmprojekt zu dieser berühmten Romanfigur ist spektakulär gescheitert) und dass der Lügenbaron Münchhausen aus der Nazifilmgeschichte befreit gehört (was Gilliam mit einem eigenen Farbfilm getan hat).

Terry Gilliam träumt bunt und wild, für die Produzenten ist das oft ein Gräuel, für die Fans aber bringt er mit seinen Visionen ein Kino noch einmal zum Leuchten, das doch längst in der digitalen Grenzenlosigkeit verlorengegangen schien. Das Kabinett des Dr. Parnassus zieht nun eine Summe von Terry Gilliams Obsessionen. Es ist ein Film über imaginäre Wirklichkeiten aller Art: klassische Mythologie, volkstümliche Legenden, Spektakeltechniken des 19. und virtuelle Welten des 21. Jahrhunderts.

Im Mittelpunkt steht die Figur des Doktor Parnassus (Christopher Plummer), der mit seinen tausend Jahren, die er auf dem allmählich krumm werdenden Buckel hat, ganz und gar nicht mehr in die Zeit passt. Parnassus hat einst seine Tochter Valentina (Lily Cole) an den Teufel verwettet - zu ihrem 16. Geburtstag soll sie den Besitzer wechseln, und schon ist der Herr der Unterwelt, der hier den Namen Mr. Nick (Tom Waits) trägt, auch zur Stelle, um seine Ansprüche geltend zu machen.

Es trifft sich gut, dass noch ein anderer Mann die Szene betritt (er wird, genau genommen, in den Film hineingehängt): Tony ist der Richtige, der Parnassus gegen den Teufel beistehen kann. Tony wurde ursprünglich von Heath Ledger gespielt, der während des Drehs verstarb. Johnny Depp, Jude Law und Colin Farrell sprangen kurzfristig ein, sodass Tony nun eine Figur mit vielen Gesichtern geworden ist - und ein Gleichnis der Hinfälligkeit gerade von Idolen.

Eine neue Wette wird vereinbart, fünf arme Seelen können Valentina auslösen, nun geht der Wettlauf gegen die Zeit los. Dass Terry Gilliam mit dieser Variation des klassischen Teufelspaktes direkt auf kritische Theorien einer seelenfangenden Kulturindustrie abzielt, liegt nahe. Denn er hält mit Das Kabinett des Dr. Parnassus heroisch eine ältere Form des freien Fantasierens hoch, eine, die an menschheitliche Fragen geknüpft war und nicht nur bloßer Effekt sein sollte.

Doch gerade auf diese Weise gerät Gilliam mit sich selbst in Widerspruch: Denn sein Film wird selbst nicht mehr zu einer nachvollziehbaren, erlösenden Erfahrungsreise, sondern missrät zu einem wilden Trip durch alle möglichen Motive des Imaginären. Deutlich sind die Verweise auf noble, weil analoge Methoden der Vorstellung anderer Welten, vom Puppentheater bis zum Spiegelkabinett, vom Panorama bis zur Geisterbahn.

Aber an diese Szenarien vor- und frühindustrieller Virtualisierung geht Gilliam mit einer wahllosen, weltenstürzenden Methode heran, die alles frei aufeinander abbildbar und locker kombinierbar erscheinen lässt, das entscheidende Moment aber vermissen lässt: jene Seele, um deren Rettung es doch angeblich geht. (Bert Rebhandl, DER STANDARD/Printaugsabe, 07.01.2010)