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Was gibt es Neues vom bärtigen alten Mann? Gibt es Fidel Castro überhaupt noch? Über ihn wurde in jüngster Zeit nur noch anekdotisch berichtet. Gesundheitsbulletins und seine Freizeitkleidung, der Wechsel von den drei Streifen zum Puma, wurden ausführlicher kommentiert als Treffen mit lateinamerikanischen Caudillos.

Aber was wird über 50 Jahre sozialistisches Kuba berichtet seit dem letzten, wiederholten Versanden der Aktivitäten politischer Oppositioneller, sofern noch in Freiheit befindlich, vor zwei, drei Jahren? Bildbände fangen den pittoresken Charme eines zerbröselnden Havanna ein, Musikträger bewahren seit zehn Jahren den von Ry Cooder reanimierten Sound steinalter kubanischer Musikpensionisten aus der Vor-Castro-Zeit. Somit kommen die Reminiszenzen der gebürtigen Mexikanerin Alma Guillermoprieto, aufgewachsen in Los Angeles und New York, die Tanz bei Martha Stewart und Merce Cunningham studierte und mit Twyla Tharp arbeitete, zur rechten Zeit.

Aber was sind eigentlich die stilistisch schlanken, ausnehmend gut zu lesenden 400 Seiten über ihre Zeit zwischen 1. Mai und November 1970 in Havanna als Ausbilderin von Modern-Dance-Studenten? Dieses Buch eine Autobiografie zu nennen wäre angesichts des zeitlichen Ausschnitts von gerade einmal sechs Monaten etwas vermessen.

Guillermoprieto schreibt gleich zu Beginn treffend, es handele sich nicht um "einen historisch zuverlässigen Bericht dessen, was sich in jenen sechs Monaten meines Lebens zugetragen hat. Andererseits ist dies aber auch kein Roman. Es ist die gewissenhafte Transkription meiner Erinnerungen: Einige sind verschwommen, manche im Laufe der Jahre lückenhaft geworden, andere im zeitlichen Abstand notdürftig zusammengeflickt oder durch neue Erlebnisse gefiltert und wieder andere zweifellos erfunden von jenem hartnäckigen Erzähler, den wir alle in uns haben und der möchte, dass die Dinge so sind, wie sie sich heute am besten für uns anhören, und nicht so, wie sie wirklich waren."

Zugleich ist diese Periode nicht zufällig gewählt. Der eine Grund ist psychologischer Natur. Im Rückblick der heute 60-jährigen Guillermoprieto kristallisiert sich das Halbjahr in Havanna als Lebenswendepunkt heraus. Sie brach als politisch naive, eifrige, aber mittelmäßige 21-jährige Tänzerin aus Manhattan auf, erlebte aus erster Hand - und das schildert sie mit feiner Ironie - Revolutionsbegeisterung ("Was musste ich tun, um genauso interessiert an Politik zu werden wie sie?" ), Reden Castros, Methoden der Repression und pseudokritische Diskussionen über Befreiung, Sozialismus und Emanzipation. Mit ihrer Aufgabe fast überfordert, traf sie auf gänzlich anders geartete Menschen, von denen einige auch in Drei traurige Tiger, dem Havanna-Roman Guillermo Cabrera Infantes, auftreten könnten. Sie fiel in eine tiefe Krise, die sie überaus schonungslos schildert - und doch findet sich hier wie anderswo auch ein einnehmender sympathischer Humor. Wenn sie etwa schildert, woran bei ihr die Selbstmordabsichten scheiterten. Erschießen - aber wie an eine Pistole kommen? Vor den Zug werfen - aber wie Schienen finden, wenn es keinerlei Karten auf Kuba gibt? Schlaftabletten - aber will sie tatsächlich den Anblick ihrer Leiche dem Hotelzimmermädchen zumuten? Zurück in Manhattan, bekam Guillermoprieto danach buchstäblich kein Bein mehr als Tänzerin auf den Boden. Brach damals auch fast mit ihrem gesamten Freundeskreis. Im Lauf der 1970er Jahre kam sie dann, eher zufällig, zum Journalismus und ist seither als Reporterin und Autorin tätig.

Zugleich lässt sie in ihrem Buch jene selbstquälerischen Sinnfragen Revue passieren, die damals eine ganze unsichere wie verunsicherte jüngere Generation bewegten. Genau auf halber Strecke findet sich dieser Katalog: "So viele Fragen gingen mir durch den Kopf: Welche Verantwortung hatte ich - hatte jeder Mensch - angesichts des Grauens (des Vietnam-Kriegs, Anm.)? Inwieweit durfte Kunst ein Zweck an sich sein? Wieso beeinträchtigte der Sozialismus meine überspannte Vorstellung von Individualität? Es gelang mir immer weniger, mich gegen meinen inneren Ankläger zu verteidigen, aber angesichts des feinen Murmelns, das immer lauter wurde, lösten sich erst einmal sowieso alle Zweifel in Nichts auf."

Zum anderen war 1970 für Kuba ein Wende- und Endpunkt. Castro musste öffentlich einräumen, dass das lautstark propagierte Projekt "Zehn Millionen" gescheitert war. Zehn Millionen Tonnen Zuckerrohr, eine niemals erreichte Zahl, sollten laut Plan geerntet werden, zu erhöhten Staatseinnahmen führen, zu Schuldentilgung und größerer Autonomie. Was an völlig falschen Grundlagen und den grandiosen Unzulänglichkeiten der Planwirtschaft jämmerlich scheiterte. Resultat: Abhängigkeit und Satrapenstatus Kubas wurden zementiert; was sich, als die UdSSR schließlich evaporierte, in aller Deutlichkeit zeigte, indem Kubas wirtschaftliche Schieflage sich dramatischer denn je verschärfte. Schon im Herbst 1970 fror auf Kuba die Zeit ein.

Bedauerlich ist, dass der Verlag mit Auskünften über Guillermoprieto zurückhaltend ist. Immerhin hat die heute in Mexiko-Stadt lebende Autorin 1982 das Massaker im Dorf El Morzote in El Salvador aufgedeckt, arbeitete danach ein Jahrzehnt für Newsweek und seither als Autorin für The New Yorker und The New York Review of Books, die noch immer Texte von verschwenderischer Länge publizieren. Seit 1995 hat sie wiederholt junge Journalisten in Kolumbien ausgebildet. Auch eine weitere Volte unterschlägt die deutsche Ausgabe: Guillermoprietos Dank. Vor allem den an Robert Gottlieb, lange ihr Redakteur beim New Yorker, Tanzkritiker und Autor eines Buches über Georges Balanchine. Schließlich regte Gottlieb sie zu diesem unaufdringlich komponierten Buch an, das frei von jedem retrospektiven Moralisieren daherkommt. Und deshalb so aufschlussreich ist. (Alexander Kluy, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 09./10.01.2010)