Eine der zehn literarischen Destinationen: Sabine Scholl: 26.12. Puerto de Santiago | Wie man ein Land zugrunde richtet

Screenshot: mitSprache unterwegs

Wien - Er war laut Eigendefinition "ein Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Katholik mit jüdischem Gehirn, ein wirklicher Revolutionär." Anderen galt Joseph Roth (1894-1939), dessen Todestag sich im vergangenen Jahr zum 70. Mal jährte, als "roter Josef", manischer Exilschriftsteller, als Kaffeehausliterat und als "heiliger Trinker" . Doch Roth war auch Feuilletonist - und ein begnadeter Reportagenschreiber.

Er schrieb über Uhrenmanufakturen im Erzgebirge, fuhr im Saarland in Bergwerke ein, verfasste Gerichtsreportagen und besuchte seine alte Heimat Galizien. Roth, für den mit der Habsburger-Monarchie über Mitteleuropa eine "kalte Sonne" , aber immerhin eine Sonne, erloschen war, erkannte die Migrations- und Minderheitenfrage, gesellschaftliche Randständigkeit und Armut sowie den technischen Fortschritt nicht nur als eigene, sondern als Themen der Zeit. Als Betroffener scheute er sich in seinen Reportagen nicht, das Wort "ich" zu verwenden. Reine Objektivität erschien ihm als Fälschungsversuch an der Wirklichkeit. "Objektivität ist Schweinerei" , sagte er einmal.

Nicht nur aus Platzmangel, auch durch finanzielle Rahmenbedingungen, ist die umfangreiche literarische Reportage eine Form, die medial kaum mehr ein Thema ist. Ein Projekt elf großer literarischer Einrichtungen Österreichs (vom Franz-Michael-Felder-Archiv in Bregenz über die Literaturhäuser der Landeshauptstädte bis zur Alten Schmiede) könnte diesem Zustand nun Abhilfe verschaffen.

"mitSprache unterwegs: Literarische Reportagen nach Joseph Roth" heißt das gestern in Wien vorgestellte Projekt. Zehn Autoren (Christoph W. Bauer, Clemens Berger, Anna Kim, Radek Knapp, Lydia Mischkulnig, Martin Pollack, Doron Rabinovici, Peter Rosei, Sabine Scholl und die vergangenen Freitag verstorbene Linzer Autorin Eugenie Kain) sind beauftragt, sich schreibend und reisend mit der literarischen Gattung Reportage auseinanderzusetzen. Für die Reise- und Projektstipendien hat das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur 60.000 Euro bereitgestellt.

Vergessene und Verlorene

So wird nun etwa Doron Rabinovici den Spuren junger Israelis in Sri Lanka, wohin es viele nach abgeschlossenem Präsenzdienst treibt, nachgehen, und Martin Pollack schreibt über die verschleppten, in Auschwitz umgebrachten Sinti und Roma des Burgenlandes, die bis heute niemand zu vermissen scheint.

Ein von Christiane Zintzen und Karl Petermichl betreuter Blog (www.mit-sprache.net) begleitet die Autoren, bietet Hintergrundinformationen, Platz für Fotos, Notizen, Diskussionen etc. Nach Abschluss des Projekts Ende Mai werden die Texte in der Edition Atelier in einer Anthologie erscheinen, Lesungen in den Literaturhäusern stattfinden und Print- und Internetmedien die Texte auszugsweise veröffentlichen. Das klingt vielversprechend. Stoff im Roth'schen Sinne gibt es genug, nicht nur in Europa. (Stefan Gmünder, DER STANDARD/Printausgabe, 13.01.2010)