Dirk von Lowtzow (rechts) und Tocotronic feiern die hohe Kunst der musikalischen Beschwerdeführung.

 

 

Foto: Reitmeier

Es handelt vom Älter-, aber nicht vom Vernünftigwerden.

Wien - Obwohl das ganze Genre derzeit gern und vor allem in Printmedien totgeredet wird - was auf einen anstehenden Generationswechsel in der Berichterstattung vom Clubkonzert Richtung neue deutsche Hochkultur schließen lässt (und weniger auf die Kunstform Pop selbst) -, 2010 wird ein gutes Jahr für deutschsprachige Musik werden.

Nachdem im Herbst 2009 schon die Hamburger Kunstpunks Goldene Zitronen mit Die Entstehung der Nacht und Ex-Blumfeld-Sänger Jochen Distelmeyer mit Heavy im Bereich der diskussionsgeschulten Unterhaltungsmusik begeistern konnten, folgt nun bis Ende Februar 2010 ein gleich dreifach unternommener Versuch, der alten Tante Pop neue Bedeutung zu verleihen.

Ende Jänner, Anfang Februar werden die Gründerväter Fehlfarben um Sänger Peter Hein aus Düsseldorf (Jahrhundertalbum Monarchie und Alltag, Demo-Klassiker Es geht voran) ihre neue Arbeit Glücksmaschinen veröffentlichen. Ein mit neun Liedern knapp wie eindringlich gehaltenes Statement von 50-jährigen Aufsässigen zu einem ewig jungen Thema der Kunst. Man muss sich dem Leben und seinen Karriereanforderungen aussetzen - und dabei aufsässig bleiben. Stichwort: "Wir warten (Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit)."

Und auch die funkigen Hamburger Altvorderen Die Sterne veröffentlichen mit dem Album 24/7 und Songs wie Depressionen aus der Hölle, Wie ein Schwein oder Nach fest kommt lose Ende Februar ein zentrales Album zur alten Problemstellung, wie es denn halbwegs würdevoll und mit erhobenem Kopf weitergehen könnte, wenn scheinbar gar nichts mehr geht. Sie entdecken dabei nach jahrzehntelang praktizierter, gitarrenlastiger Routine, zuletzt etwa auf der Songsammlung Räuber und Gedärm von 2006 und dem Soloalbum des Sängers Frank Spilker aus dem Jahr 2008, die Freuden modernistisch gedeuteter Discomusik im Stile Giorgo Moroders und der "Munich Disco" der 1970er-Jahre.

Schon nächste Woche wird die neue CD eines weiteren Fixgestirns des deutschen Diskurshimmels erscheinen. Die 1993 von Hamburg aus gestartete und mittlerweile in Berlin-Mitte ansässige Band Tocotronic veröffentlicht mit dem titelmäßig an US-Autor William Faulkner angelehnten Schall & Wahn auch schon wieder ihr zehntes Studioalbum.

Vom einstigen Impetus der dilettantisch mit geschrubbten Gitarren befeuerten Beschwerdeführung ihrer Anfangstage auf Tonträgern wie Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein oder Wir kommen um uns zu beschweren ist zwar musikalisch wenig übriggeblieben. Wenn man vom mehr beherzten als technisch sattelfesten Zugang zur Handhabung der Stromgitarren absieht. Die krachen und quengeln noch immer so wie früher im gemächlichen mittleren Tempobereich.

Im Zweifel für den Zweifel

In dem sieht man beim Hören nach wie vor die im Mundwinkel gepressten Zungen während der Akkordwechsel und hört traditionellen Lärmrock im Stile der New Yorker Altvorderen Sonic Youth, gebrochen durch romantisch kodierte deutsche Aufsässigkeitslyrik: "Was du auch machst / Mach es nicht selbst / Auch wenn du dir den Weg verstellst / Was du auch machst / Sei bitte schlau / Meide die Marke / Eigenbau."

Die nach wie vor sehr jugendlich auftretenden Musiker auf dem Sprung ins vierte Lebensjahrzehnt, Sänger und Texter Dirk von Lowtzow, Bassist Jan Müller, Schlagzeuger Arne Zank sowie der ewig "neue" , erst Jahre nach Bandgründung hinzugestoßene Leadgitarrist Rick McPhail, schließen mit Schall & Wahn unter der Produktionsregie von Moses Schneider, dem Erfolgsproduzenten hinter Jochen Distelmeyer, Beatsteaks oder auch den burgenländischen Wahlberlinern Ja, Panik, nach Pure Vernunft darf niemals siegen (2005) und zuletzt Kapitulation (2007) ihre sogenannte Berlin-Trilogie ab. Drei Werke, die sich in teilweise merkwürdig altertümlichem und schrulligem lyrischem Stil mit den Problemen des Älterwerdens auseinandersetzen, ohne dabei den Widerstandsgedanken und die Kunst der Verweigerung aufgeben zu wollen.

Mitunter dauern heute neue Lieder wie Eure Liebe tötet mich, Ein leiser Hauch von Terror, Das Blut an meine Händen oder Im Zweifel für den Zweifel heute schon einmal über acht Minuten und warten mit Chorgesang, Bläser- und Streichersatz auf. Einsichtig und einverstanden mit dem verlogenen Begriff des "Schicksals" klingt das aber noch immer nicht. Dirk von Lowtzow singt dazu genussvoll und hinterhältig im zartest möglichen Diskant: "Im Zweifel für den Zweifel /Und für die Pubertät / Im Zweifel gegen Zweisamkeit / Und Normativität."

Ein wichtiges und frühes Album für das Jahr 2010. (Christian Schachinger/ DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.1.2010)