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Das Gehirn kann ältere und neuere Informationen gleichzeitig nutzen. Neuroinformatiker haben dafür nun ein Modell entwickelt.

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Dass es in den Gehirnen bei der Verarbeitung von Informationen eher chaotisch zugeht, ist eine relativ neue Erkenntnis, die den renommierten Neurowissenschafter Henry Markram vor ein großes Problem stellte: denn seine experimentell gewonnenen Daten zur Informationsverarbeitung des Gehirns passten zu keiner der vorhandenen theoretischen Erklärungsmodelle. Auf der Suche nach einer geeigneten Theorie hat er sich schließlich an den Neuroinformatiker Wolfgang Maass vom Institut für Grundlagen der Informationsverarbeitung der TU Graz gewandt.

Das aufsehenerregende Ergebnis dieser Anfrage ist eine gänzlich neue Theorie zur Funktionsweise der neuronalen Schaltkreise. "Liquid Computing" nennen sie die Forscher - also "flüssiges" oder "fließendes" Rechnen. Um sich einen Begriff davon zu machen, stelle man sich vor, "dass die Informationsverarbeitung im Gehirn wie ein Teich funktioniert, in den man Steine wirft", erläutert Projektmitarbeiter Stefan Häusler. "Es entstehen sich gegenseitig überlagernde Wellen, die Informationen darüber enthalten, wie viele und wie große Steine hineingeworfen wurden". Ähnlich wie diese Wellen breiten sich Sinnesreize auch im Gehirn aus. Der springende Punkt ist die Fähigkeit des Gehirns, dabei ältere und neue Informationen gleichzeitig zu nutzen. "Bereits ein Neuron in der Sehrinde bekommt seine Informationen also nicht nur direkt von der Retina, sondern von zehntausenden Nachbarneuronen, die den optischen Reiz quasi schon 'vorverarbeitet' haben", erläutert Wolfgang Maass.

Um zu überprüfen, ob im Gehirn tatsächlich eine solche Informationsüberlagerung stattfindet, wurden in diesem vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekt in Zusammenarbeit mit den Hirnforschern Wolf Singer und Danko Nikolic vom Frankfurter Max-Planck-Institut entsprechende Experimente durchgeführt.

Dabei haben die Forscher Versuchstieren Bilder von verschiedenen Buchstaben auf dem Bildschirm präsentiert und die damit ausgelöste Hirnaktivität in der Sehrinde mittels Elektroden aufgezeichnet. "Auf diese Weise konnte man nachweisen, dass die gängige Vorstellung, wonach in der Sehrinde Informationen wie am Fließband unmittelbar in andere Gehirnareale weitergeleitet werden, falsch ist", erklärt Maass. "Die Informationsverarbeitung erfolgt nicht Schritt für Schritt, da hier bereits eine Art Gedächtnis ins Spiel kommt!"

Eine Vermischung von Informationen, die jeder aus der Selbstbeobachtung kennt: Schließt man die Augen, steht das zuletzt gesehene Bild noch Sekundenbruchteile vor dem "inneren Auge". "Besonders verblüffend fanden wir die mit bis zu einer Sekunde sehr lange Dauer dieser die Informationsverarbeitung beeinflussenden Erinnerung", so der Neuroinformatiker.

Vorgänge nachbilden

Was bedeuten diese mit der "Liquid Computing"-Theorie übereinstimmenden Beobachtungen für die Gehirnforschung? "Bislang konnte man das Gehirn nur mit sehr vereinfachten Modellen simulieren, da man mit der komplexen Organisation der Informationsverarbeitung nicht umzugehen wusste", berichtet Wolfgang Maass.

"Mit unserem theoretischen Ansatz ist es nun möglich, auch die Architektur der neuronalen Vorgänge nachzubilden und damit die Funktionsweise des Gehirns besser zu verstehen und irgendwann auch zu beeinflussen - was unter anderem die Behandlung vieler Erkrankungen revolutionieren würde".

Davon sei man zurzeit aber noch weit entfernt, vorerst handle es sich hier um Grundlagenforschung. "Tatsächlich weiß man heute erst sehr wenig über die Funktionsweise des Gehirns", betont Maass. "Auch wenn viel geschrieben wird - es sind erst einige Details, die wir kennen!"

Ein Qualitätssprung

Für die Computerwissenschaft jedoch sind diese neuen Erkenntnisse ein enormer Qualitätssprung. Indem man die Informationsverarbeitung von biologischen Systemen besser versteht, können diese realistischer nachgebaut und damit neue Technologien - wie etwa sehende Maschinen - entwickelt werden. "Dann hätte man eine Kamera, die ähnlich wie unser Sehzentrum funktioniert", sagt Stefan Häusler. "Diese Kamera würde also nicht nur Reize weiterleiten, sondern auch verarbeiten, indem sie Inhalte erkennt."

Da die Natur - ganz anders als die traditionellen Computer mit ihren digitalen Mustern - "event-basiert" rechnet, also nur dann Energie braucht, wenn die Neuronen "etwas zu sagen haben", verfügen die von biologischen Systemen inspirierten Computer der Zukunft über ein enormes Energiesparpotenzial.

Dieser ökologische Weg der Informationsverarbeitung ist einer der Gründe, warum auch die EU die Grundlagenforschung für die neue Computergeneration mit großen Summen fördert. "Allerdings stehen wir bei diesem Unterfangen erst am Anfang", bekennt Wolfgang Maass. (Doris Griesser/DER STANDARD, Printausgabe, 20.01.2010)