Cover: Berlin Verlag

Es beginnt auf einer Bank oberhalb Jaltas. Und es endete in Badenweiler in Deutschland mit einem Kühlwagen, auf dem "Frische Austern" stand.

Nicht irgendeine Bank ist es, und die Aussicht keineswegs beliebig. Es ist jene Bank, auf der sich Anna Sergejewna und Dimitri Gurow, die beiden Protagonisten von Anton Tschechows wohl berühmtester Erzählung Die Dame mit dem Hündchen, nach dem ersten ehebrecherischen Sex in Sichtweite einer Kirche niederlassen und über Jalta hinweg aufs Schwarze Meer schauen. Ihre innere Verfassung ist wie so häufig bei den Figuren in den nun in einer wohlfeilen Taschenbuchausgabe erhältlichen knapp 100 Erzählungen und 15 Schauspielen des russischen Autors Anton Tschechow opak, helldumpf: für sich selber undurchsichtig, nur partiell durchschaubar, existenzielle Transparenz kaum mehr als ein träger Blitz. Dort, auf der Bank, sitzt mehr als 100 Jahre später die 1934 geborene Janet Malcolm, Mitarbeiterin des Magazins The New Yorker und bekannt für ihre recht harschen Urteile. Doch auf der Krim fühlt sich die scharfsinnige Essayistin leicht fehl am Platz. Eher so wie eine Figur in einem "neuartigen Drama", verloren, ja fast als Teil einer Farce. Malcolm, die kein Russisch spricht, hatte sich für ihr Buch zum reizvollen Ziel gesetzt, Russland zu bereisen und dabei den Spuren Anton Tschechows zu folgen.

Magische Seiten des Genies

Sie besucht deshalb seine Landhäuser und Villen, die fast alle zu Museen wurden, teilweise auch nur noch Repliken sind, sie fährt nach Moskau und nach St. Petersburg. Und beschreibt ein trauriges, tief zerrissenes, architektonisch verheertes Land. Wobei sie keineswegs ihre eigenen Launen, Kratzbürstigkeiten und ungnädigen Urteile über unwillige oder unwissende Stadtführerinnen verbirgt, die unflexibel und unbeugsam auf den konventionellen, ausgetretenen Standardtouristenpfaden beharren. Auf ihrer, wie es Malcolm leicht ironisch nennt, literarischen Pilgerreise, "die die magischen Seiten des Werks eines Genies verlässt und sich zur ‚Urszene‘ aufmacht" , erwartet sie am Ende schließlich das, was sie von Beginn an antizipiert hat: ein leichter Anflug von Melancholie. Ihrer Leserschaft aber bietet sie erhellende, kluge, sehr urbane Aufklärung.

Denn was Malcolms nur äußerlich schmales, sprachlich graziöses Buch so lesenswert macht, ist ihr Vermögen, nahezu fließend, ja unmerklich sanft vom Konkreten, einem Zimmer, Garten, Brief, zur Literatur und deren Ausdeutung überzugehen. Von Jalta und anderen Orten ausgehend, an denen sich Tschechow aufhielt, wo er lebte, litt, begeistert gärtnerte, arbeitete, Briefe schrieb oder starb, subtil über sein Werk nachzudenken, das er binnen 20 Jahren zu Papier brachte - er starb 1904 als 44-Jähriger und wurde nach Moskau in einem üblicherweise für Austern benutzten Kühlwagen überführt -: über einzelne Erzählungen, einzelne Figuren, deren Antrieb und prismatische Blindheiten wie auch über zentrale Themen wie Schönheit oder Tod. Und zudem ein konzises, greifbares Bild von Tschechow selbst zu formen.

Niemand anderer als dessen Landsmann Vladimir Nabokov, der Tolstoi und dessen Haltung nicht ausstehen konnte, mahnte einmal leidenschaftlich an: "Ich empfehle von Herzen, Tschechows Werke so oft wie möglich zur Hand zu nehmen und durch sie hindurchzuträumen, wie das ein Leser soll."

Janet Malcolm, klug, wie sie ist, verweigert sich emphatischem Träumen, wenn sie auch einmal ins Meditieren gerät, was ihm widerfahren wäre, wie sich Tschechow, dieser praktizierende Skeptiker, verhalten hätte, wäre er nicht 1904 gestorben, sondern hätte er Weltkrieg und die kommunistische Revolution erlebt. Hätte er sich schließlich Stalins Regime angedient wie Maxim Gorki? Oder wäre er so wie der Dichter Ossip Mandelstam an moralischer Aufrichtigkeit elend zugrunde gegangen? Hätte er laviert wie lange Zeit Boris Pasternak? Oder sich ins privatistische Schreiben wie die große Anna Achmatowa abdrängen lassen?

Tschechow selber hat in einem gern und oft zitierten Brief, den er im Oktober 1888 schrieb, sich selber so beschrieben: "Ich bin kein Liberaler, kein Konservativer, kein Reformanhänger, kein Mönch, kein Indifferenter. Ich möchte ein freier Künstler sein und nichts weiter, und ich bedauere, dass Gott mir nicht die Kraft gegeben hat, einer zu sein. Ich hasse Lüge und Gewalt in all ihren Erscheinungsformen (...) Firma und Etikett halte ich für ein Vorurteil. Mein Allerheiligstes sind der menschliche Körper, Gesundheit, Geist, Talent, Begeisterung, Liebe und absolute Freiheit, Freiheit von Gewalt und Lüge, worin sich die beiden Letzteren auch äußern mögen." Und relativierte diese für ihn so untypisch pathetischen Aussagen sogleich mit der nachgeschobenen Bemerkung: "Das ist das Programm, an das ich mich halten würde, wenn ich ein großer Künstler wäre."

Im Juni 1888 antwortete der gerade einmal 28-jährige, aber schon angesehene Tschechow in einem Brief einigen Kritikern, die ihm einen merkwürdigen, ja unvollständigen Ausgang seiner Erzählungen vorhielten: "Wir wollen keine Scharlatane sein und geradeheraus verkünden, dass man auf dieser Welt nichts begreift. Alles wissen und alles begreifen können nur Dummköpfe und Scharlatane." Eben dies, dass etwas fehlt, dass Lücken und Entwicklungssprünge nicht durch minuziöses Nacherzählen aufgefüllt werden, macht die Modernität seiner Dramatik und seiner Prosa aus. Leben ohne zu leiden, das ist bei Tschechow schier unmöglich. Die innere Gespanntheit und psychische Überspanntheit seiner Protagonisten, ihre Nervosität und Reizbarkeit, das Verfehlen eines Lebenssinnes und die durch nichts zu betäubende gierige Sehnsucht danach, ein Gefühl fürs Diffuse wie für die Defizite des Unterbaus des menschlichen Lebens machen seine Erzählungen so frisch, beeindruckend und zeitgenössisch. Und verschleiern elegant wie unmerklich seine Unnachgiebigkeit und Härte.

Dichter des Provisorischen

Denn eines macht Janet Malcolm auch klar: Tschechow war keineswegs ein distanzierter, leidenschaftsloser Realist. Auch wenn er selber sich der Camouflage eines illusionslosen Beobachters bediente. "Wenn er über seine Figuren nicht den Mantel der Verschwiegenheit breiten kann wie über sich selbst - und sich trotzdem als Autor von Fiktionen bezeichnet -" , so Malcolm, "kann er davon absehen, sein Autorenprivileg der Allwissenheit auszuüben. Er kann seine Charaktere zurücknehmen, er kann sie ein wenig unscharf und ihre Motive etwas geheimnisvoll belassen." Er kann sie aber auch karikieren, ohne dass dabei eine plumpe Karikatur herauskommt. Oft genügt ihm dafür ein Satz. In der Erzählung Ariadna von 1895 reicht es, dass der Figur Ljubow angesichts eines großartigen Landschaftspanoramas der Satz "Hier müsste man Tee trinken!" entfährt, um seine ganze Banalität auszudrücken.

Malcolms von Anna und Henning Ritter sehr gut übersetztes Buch dürfte die wohl beste, derzeit erhältliche Hinführung zu Tschechow sein. Die Funktion als Einführung übertrifft sie bei weitem. Auch dank ihrer eigenen Formulierungskünste. Sätze wie "Onkel Wanja ist so etwas wie ein absurder Sommernachtstraum. Befremdliche Ereignisse geschehen, aber es folgt nichts daraus. Glücksvisionen erscheinen und verschwinden. Alles ist, wie es vorher war" liest man staunend ob der kristallklaren Originalität. Dabei berücksichtigt Malcolm auch jüngste Forschungsansätze. So jene, die bei Tschechow, dem Sohn eines fanatisch frömmlerischen Händlers, dessen Kindheitsjahre von Religion durchzogen waren inklusive unchristlicher Schläge, zahllose biblische Anspielungen gefunden haben. Diese sind aber en passant eingestreut. War es doch "nie Tschechows Art, auf irgendetwas zu insistieren. Er predigte nicht, ja er lehrte nicht einmal. Er ist unser Dichter des Provisorischen und Zerbrechlichen." (Alexander Kluy, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 23./24.01.2010)