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Foto: AP/Jens Meyer

Erklärtes Ziel vieler Unternehmen war und ist es, ihre Kunden zu begeistern. Doch Kundenbegeisterung generell als vorrrangige unternehmerische Zielsetzung zu wählen hält Stauss für problematisch. Seinen Erkenntnissen nach erweisen sich einige der dahinter stehenden und durchaus plausibel erscheinenden Grundannahmen bei näherem Hinsehen als Mythen.

Mythos 1: Kundenzufriedenheit garantiert Kundenloyalität.

Kundenzufriedenheit, so die Annahme, führt zu Kundenloyalität und gewährleistet so die Erreichung von Umsatz- und Gewinnzielen. Erfahrung und Marktstudien bestätigen zwar: zufriedene Kunden sind loyaler als unzufriedene. Doch diese Kundenzufriedenheit ist keine Garantie für Kundenloyalität, zeigen empirische Daten.

In einzelnen Branchen können Unternehmen auf Zufriedenheitswerte von 80 bis 90 Prozent verweisen, während sie zugleich 30 und mehr Prozent dieser Kunden verlieren - weil ein als qualitativ gleichwertig oder als überlegen angesehenes, aber preisgünstigeres Wettbewerbsangebot am Markt ist, der Wunsch nach Abwechslung oder auch Veränderungen in der Bedürfnisstruktur des Kunden dazu veranlassen.

Mittlerweile haben viele Unternehmen die paradoxe Situation erkannt, dass ihnen die Marktforschung gleichzeitig steigende Zufriedenheitswerte und Abwanderungsraten präsentiert und sich auf die Suche nach einer valideren Alternative zur Zufriedenheitsmessung macht. Eine Alternative geht dabei in die Richtung der Messung zukünftiger Verhaltensintentionen der Kunden, eine andere zur Kundenbegeisterung. Beide bergen für Stauss die Gefahr, in mythische Fallen zu geraten.

Mythos 2: Die vom Kunden geäußerte Loyalitätsabsicht entspricht ihrem Loyalitätsverhalten.

Aufgrund der schwachen Korrelation zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenloyalität legen viele Unternehmen bei der Befragung nun stärkeres Gewicht auf das beabsichtigte Loyalitätsverhalten der Kunden. Sie befragen die Kunden zu ihrer Bereitschaft zum Wiederkauf, zum Kauf weiterer Produkte (‚Cross Buying‘) und/oder zur Weiterempfehlung.

Dennoch, so Stauss, "darf die Handlungsabsicht nicht mit dem tatsächlichen zukünftigen Verhalten gleichgesetzt werden." Bei langlebigen Gebrauchsgütern können beispielsweise die angesprochenen Wiederkäufe erst nach mehreren Jahren und unter völlig veränderten Bedingungen aktuell werden. Bei Gütern des täglichen Bedarfs von geringer persönlicher Bedeutung kann die grundsätzliche Bereitschaft, eine Marke weiterhin zu verwenden, schon durch ein preisliches Sonderangebot in der Kaufsituation irrelevant werden. Insofern ist es für Stauss "kein Wunder, dass Vergleichsstudien zwischen den von Kunden in Befragungen geäußerten Verhaltensabsichten und ihrem faktischen Verhalten Anlass zu starken Zweifeln hinsichtlich der Aussagekraft von Absichtserklärungen der Kunden geben."

Mythos 3: Alle Kunden wollen ständig begeistert werden.

Differenzierte Analysen des Zusammenhangs zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenloyalität zeigen, dass keine lineare Beziehung vorliegt, sondern dass die Loyalität tendenziell mit der Intensität der Kundenzufriedenheit steigt. Das heißt: nur diejenigen haben eine ausgeprägte innere Bindung an Marke oder Unternehmen, die auf einer Zufriedenheitsskala die positiven Extremwerte ankreuzen. Dies sind die "Begeisterten" , in der Managementliteratur auch als "Missionare" oder "Apostel" bezeichnet, weil sie als glaubwürdige Botschafter des Markenvorteils auftreten. Wer Kundenbindung erreichen und erhöhen will, muss demnach ein möglichst großes Segment dieses Typs anstreben. Das ist die argumentative Basis der Begeisterungsstrategie.

Für Stauss ist es allerdings mehr als fraglich, ob alle Kunden aller Produkte oder Dienstleistungen permanent begeistert werden wollen. Und können. Was bei Produkten mit hoher persönlicher Bedeutung und Sichtbarkeit im sozialen Umfeld gilt, muss keineswegs für alltägliche ("commodity" ) Produkte und Dienstleistungen gelten. In vielen Fällen wollen Kunden primär, dass sie die Leistung, die sie erwarten können, auch erhalten, und zwar zu einem von ihnen als angemessenen angesehenen Preis.

Wichtig und bindend für sie ist nicht, dass sie von allen geschäftlichen Beziehungspartnern - etwa einer Bank - eine Glückwunschkarte zum Geburtstag erhalten, sondern dass die Überweisungen schnell und richtig durchgeführt werden und Fehler behoben wird. Diese banal erscheinende Erkenntnis wird, "durch empirische Studien immer wieder gestützt und in der Praxis immer wieder vernachlässigt" , berichtet Stauss.

Insofern kommt es für Stauss darauf an, zunächst die Basisanforderungen der Kunden jederzeit und verlässlich zu erfüllen und damit Unzufriedenheit zu vermeiden, bevor die Sorge den vermeintlichen Begeisterungsfaktoren gilt. Dazu gehört auch, dass der Kunde Hilfe genau dann erhält, wenn er sie braucht. Wer im Problemfall keine Kontaktstelle findet, wer beim Versuch, die Service-Hotline zu erreichen, seine Zeit in der Warteschleife verbringt, den regt das propagierte Ziel der Kundenbegeisterung noch mehr auf. Selbst wenn der verärgerte Kunde am Ende eine angemessene Lösung seines Problems oder gar ein Zusatzgeschenk erhält, wird ihn seine Zufriedenheit mit der Problemlösung nicht von der Abwanderung abhalten, kann er vemuten: an den Problemen oder der schlechten Serviceerfahrung wird sich auch zukünftig nicht ändern.

Mythos 4: Kundenbegeisterung ist die ökonomisch überlegene Strategievariante.

Vor Jahren wurde eindrucksvoll gezeigt: die ausschließliche Konzentration des Marketings auf Neukunden ist ökonomisch zweifelhaft, weil es auf umkämpften und verteilten Käufer-märkten häufig günstiger ist, einen aktuellen Kunden zu halten als einen neuen Kunden zu gewinnen.

Dieser prinzipiell richtige Grundgedanke ist aber vielfach im Sinne einer generellen Regel missverstanden worden, etwa in der Wiederholung der einmal aufgestellten populären Behauptung, Kundenbindung sei fünfmal günstiger als Neukundenakquise. Stauss: "Diese Generalisierung ist unsinnig, weil die konkreten Kosten von Art und Umfang der jeweils für Kundenbindung oder Neukundengewinnung eingesetzten Instrumente abhängt." Doch die Orientierung an dieser so eingängigen "Fünfmal-Teurer" -Regel hat stark zu der Illusion beigetragen, eine auf Kundenbindung abzielende Strategie der Kundenbegeisterung sei eine ökonomisch überlegene Strategievariante. Was dabei - neben anderem - übersehen wird, ist die Eigendynamik dieser Strategie.

Begeisterung unterscheidet sich von Zufriedenheit durch eine besonders hohe emotionale Erregung, die durch eine positive Überraschung ausgelöst wird. Ein Kunde ist umso begeisterter, je stärker die positive Überraschung ausfällt. Allerdings: Jedes begeisternde Erlebnis erhöht das kundenseitige Anspruchsniveau. Die positiven Dinge, die beim ersten Mal angenehm überrascht haben, werden beim zweiten Mal bereits als Normalfall erlebt. Ihr Ausbleiben führt sofort zur Unzufriedenheit, vielleicht sogar schon das Ausbleiben einer überraschenden Steigerung.

Unternehmen, die eine Begeisterungsstrategie fahren, müssen also permanent neue starke positive Emotionen durch immer neue positive Überraschungen für immer anspruchsvoller werdende Kunden stimulieren. Diese Strategie ist daher mit hohen und ständig steigenden Kosten verbunden. "Wer diesen Weg gehen will, muss sich also sehr genau ansehen, wie hoch der Anteil der Begeisterten ist, welchen Kundenwert dieses Segment repräsentiert, wie stark ihre Loyalität tatsächlich ausgeprägt ist und was es kostet, den Anteil dieser Apostel um einen Zielprozentsatz zu erhöhen" , so Stauss.

Für ihn muss mithin die Kernfrage beantwortet werden, ob die Mehrkosten zur Generierung ständig neuer Begeisterungen durch Mehrerlöse aufgrund eines gesteigerten Loyalitätseffektes überhaupt gedeckt werden. In vielen Fällen wird man feststellen: es ist sehr viel rationaler, kostengünstiger und wirksamer, in Maßnahmen zur Vermeidung der Abwanderung unzufriedener Kunden zu investieren als die zufriedenen Kunden noch zufriedener zu machen. Unter dem Strich spricht für Stauss "viel dafür eine vielleicht weniger begeisternde, aber realistischere Perspektive einzunehmen" . Seine diesbezüglichen Empfehlungen:

  • Erfüllung von Basisanforderungen vor Begeisterungsanforderungen.

Seit langem ist die Unterscheidung in Basismerkmale, Leistungsmerkmale und Begeisterungsmerkmale der vom Kunden wahrgenommenen Qualität bekannt.

Basismerkmale sind diejenigen Qualitätsaspekte, die vom Kunden grundsätzlich erwartet werden. Werden die Basisanforderungen nicht erfüllt, entsteht unmittelbar Unzufriedenheit, während bei Erfüllung aber kein Gefühl der Zufriedenheit eintritt.

Bei Leistungsmerkmalen steigt die Zufriedenheit mit dem Grad der Anforderungserfüllung. Begeisterungsmerkmale sind dagegen die Qualitätsaspekte, die der Kunde nicht unbedingt erwartet. Deshalb ist er begeistert, wenn die Leistung diese Merkmale aufweist, aber bei deren Ausbleiben nicht automatisch unzufrieden.

Diese Differenzierung legt die strategische Forderung nahe, alle Basisanforderungen zu erfüllen, bei den Leistungsanforderungen wettbewerbsfähig zu sein und sich über die Begeisterungsfaktoren zu differenzieren. Es muss für Stauss aber unbedingt beachtet werden, "dass diese strategische Empfehlung eine klare Reihenfolge enthält, nämlich zunächst die Basisanforderungen zu erfüllen, sich dann intensiv um die Leistungsanforderungen zu kümmern und sich erst auf dieser Basis den Begeisterungsmerkmalen zuzuwenden."

Das bedeutet: Die hundertprozentige Beherrschung aller Elemente und Prozesse der Kernleistung muss im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen. Jede Verletzung von Basisanforderungen führt zu starker Unzufriedenheit und häufig zu Abwanderungsbereitschaft. Das Angebot von "Extras" bei gleich-zeitigen Mängeln in der Kernleistung wird als falsche Prioritätensetzung wahrgenommen und erweist sich somit als dysfunktionale Fehlinvestition.

  • Unzufriedenheitsanalyse vor Zufriedenheitsanalyse.

Die Zufriedenheitsmessung zeitigt in der Regel als Ergebnis eine hohe Zufriedenheit der befragten Kunden und signalisiert die scheinbare Richtigkeit des eingeschlagenen Wegs. Doch die gemessene Kundenzufriedenheit ist kein belastbarer Indikator für Kundenloyalität. Der Zusammenhang zwischen Zufriedenheit und Loyalität ist in der Regel weit schwächer als der zwischen Unzufriedenheit und Abwanderung.

Um Abwanderung zu vermeiden gilt es die Gründe für Unzufriedenheit zu erfassen und zu beseitigen. Die zentrale Aufmerksamkeit gebührt den Unzufriedenheitsäußerungen und Kundenbeschwerden. Darüber hinaus sind für Stauss "abgewanderte" Kunden nach ihren Gründen zu befragen, die Treiber für Kundenverluste zu identifizieren." Dementsprechend sind Unzufriedenheitsanalyse, Fehleranalyse, Beschwerdeanalyse und Lost Customer Analyse für ihn wichtiger als Zufriedenheitsanalyse. Nicht warum Kunden bleiben, sondern warum sie gehen ist zentral.

  • Vermeidung der Abwanderung vor Kundenbegeisterung.

Durch konsequente Fehlerkorrektur, Qualitätsverbesserung und Innovation müssen die Ursachen für Kundenabwanderung wegen Unzufriedenheit schnell, umfassend und dauerhaft beseitigt werden.

Zudem gilt es, durch Beschwerdemanagement gefährdete Kundenbeziehungen zu stabilisieren und damit die entsprechenden Kundenumsätze und -deckungsbeiträge zu sichern. Diese Empfehlung klingt selbstverständlich, steht für Stauss "aber im krassen Gegensatz zu der bei vielen Unternehmen beobachtbaren Praxis."

Unter Kostendruck nehmen sie Einschränkungen hinsichtlich der Kernleistung und im Kundenservice vor und verstärken somit die Ursachen für Unzufriedenheit und Abwanderung. Auf die Kundenverluste reagieren sie dann mit vermehrten Maßnahmen zur Neukundenakquisition und gewähren dabei den Neukunden Sondervorteile, was die Stammkunden benachteiligt, denen dann wieder andersartige Extras zur Kundenbegeisterung angeboten werden. Aus diesem sich selbst beschleunigenden Teufelskreis kann man nur ausbrechen, indem der Abwanderungsvermeidung eine eindeutige Priorität zugewiesen wird.

  • Fazit.

Der viel empfohlene Weg zur Kundenbegeisterung erweist sich für viele Unternehmen als Irrweg. Erfolg versprechender ist es, "sich von den Mythen der Begeisterungsstrategie zu verabschieden und alte, einfache Wahrheiten wiederzuentdecken" , sagt Stauss. Dazu gehören für ihn: Die Kernleistung muss uneingeschränkt stimmen. Der Preis muss angemessen sein. Das Unternehmen muss für Kunden mit Problemen jederzeit erreichbar sein und ihnen eine zufriedenstellende Lösung anbieten. Die Gründe für Kundenunzufriedenheit und -abwanderung müssen differenziert analysiert und als Basis von Qualitätsverbesserungen und Innovationen dienen.

Erst wenn Unternehmen diese Forderungen konsequent erfüllt haben, können sie darüber nachdenken, ob es sich lohnt, über eine Leistungssteigerung aus ihren zufriedenen Kunden begeisterte Fans zu machen. Stauss: "Die Botschaft ‚Erst die Pflicht - dann die Kür' ist natürlich nicht neu. Wer sie allerdings in Unternehmen umsetzen will, wird schnell erfahren, wie neu sie klingt und zu welch gravierenden Änderungen in der Praxis des heutigen Kundenmanagements sie führt."(Hartmut Volk, DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.1.2010)