Delinquenten ohne Ambition: Lisa Bowman und Larry Fessenden in Kelly Reichardts famosem Debüt "River of Grass"  (1996)

 

 

Foto: Filmmuseum

Will Oldham (vorne) in "Old Joy"

 

 

Foto: Filmmuseum

Wien - Als Kelly Reichardt ihren dritten Spielfilm "Wendy and Lucy" im Mai 2008 bei den Filmfestspielen in Cannes vorstellte, da sei das eine beunruhigende und auch seltsame Erfahrung gewesen - "wie die Teilnahme an einer Hochzeit, an die man sich später nicht erinnert" . "Wendy and Lucy" katapultierte die bis dato eher in Indie-Zirkeln bekannte US-Filmemacherin plötzlich in eine größere Öffentlichkeit und ihren Film sogar in den regulären Verleihbetrieb. Dass ein Star wie Michelle Williams darin die Hauptrolle spielte, mag ebenfalls hilfreich gewesen sein. Kalkül war es definitiv keines.

Das Werk von Kelly Reichardt besteht vorläufig aus drei Langfilmen und drei kürzeren Arbeiten, entstanden seit 1994. Im Zentrum stehen jeweils ganz überschaubare Figurenkonstellationen: ein Zufallspaar, zwei alte Freunde, eine Frau und ihr Hund. Aber die Personen und die reduzierten Erzählungen sind jeweils an die US-Gegenwart, an die konkreten Verhältnisse rückgebunden - ob es sich dabei um die gebauten Räume, um die Natur als vermeintlicher Rückzugsort oder die triste wirtschaftliche Lage handelt.

In "River of Grass" beispielsweise, Reichardts Debüt von 1994, das man auch als tragikomische Variation auf Barbara Lodens Klassiker "Wanda" lesen könnte, begegnen einander nachts in einer Bar die Tagträumerin und Ich-Erzählerin Cozy und der Tagedieb Lee Ray. Die beiden faulen, nicht wirklich handlungswilligen Helden sind bald gemeinsam als scheinbare Gewalttäter auf der Flucht. Daneben erzählt der Film, der noch am Stärksten mit den Möglichkeiten des Fiktiven spielt, zum Beispiel eine kleine Geschichte von Jazzplatten oder von nicht fertiggestellten Highways, die auf gewaltigen Pfeilern ruhende Betonschleifen in die Landschaft setzen.

Wenn 14 Jahre später die Einzelgängerin Wendy mit ihrer Hündin Lucy im gleichnamigen Film auftaucht, dann könnte man sie auch für eine Wiedergängerin von Cozy halten - allerdings ernüchtert und von jener ökonomischen Zwangslage definiert, in der sich inzwischen immer größere Teile der US-Gesellschaft tatsächlich befinden.

Weg nach unten

"Wendy and Lucy" ist eine verdichtete Studie solcher Abstiegskurven. Die Protagonistin lebt bereits im Auto, sie ist mit gerade einmal 500 Dollar im Gürtelsafe unterwegs nach Alaska, wo es noch Arbeit und angemessene Bezahlung geben soll. Aber in Oregon wird Wendy zunächst beim Ladendiebstahl ertappt. In der Zeit, die sie in der Zelle verbringt, verschwindet dann Lucy spurlos, und das ist noch nicht das Ende der Pechsträhne.

Ohne große dramatische Gesten begleitet der Film Wendy durch diese entscheidenden Tage. Ein alter Mann, der sich als Parkplatzwächter vor einem Gebäude verdingt, wo kaum einer parkt, wird zum Vertrauten der scheuen Wendy, die ihrer Situation mit Disziplin begegnet und möglichst nicht auffallen will. Am Ende steckt er ihr etwas Geld zu, er will nicht diskutieren, sie soll es nehmen:Sechs Dollar zählt man schließlich in Wendys Hand.

Reichardts Filme sind von solchen konzentrierten Bildern und von einem gelassenen, aber präzisen visuellen Stil geprägt, den eine meist statische Kamera kennzeichnet. Im Vorfeld von "Old Joy" (2006), einer schönen, gut beobachteten Studie über Freundschaft, habe sie unter anderem Filme des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu angeschaut. Dessen "pillow shots" , Zwischenbilder, die die Erzählung ebenso verbinden wie kurz aussetzen, findet man auch in Reichardts Arbeiten.

Außerdem spielen darin Filmmusik und Vertonung eine wichtige und eigenständige Rolle. Mitunter ist für Erstere übrigens der Musiker Will Oldham verantwortlich, der in "Old Joy" außerdem den Thirtysomething Kurt spielt, welcher seine Verarmung mit seinem Lebenskünstler-Habitus kaschiert. Nicht nur an seine Fans geht für die Retro eine unbedingte Empfehlung. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29.1.2010)