Der Heldenplatz in Wien am 19. Februar 2000: demonstrieren gegen die FPÖVP-Regierung, gegen Rassismus und Fremdenhass.

Foto: Robert Newald

Eigentlich waren es ja gar keine Sanktionen: Die EU hat kein Handelsembargo gegen Österreich verhängt. Sie hat auch nicht die Autobahn nach Innsbruck gesperrt und nicht den Flugverkehr nach Wien eingestellt. In Brüssel wurde kein Bann gegen die schwarz-blaue Regierung verlesen. Es wurde nicht einmal ein richtiger Fluch gegen Wolfgang Schüssel und seine von Jörg Haider gestützte Koalition geschleudert. Es war allenfalls ein Bannflüchlein. Die katholische Kirche ist einst, in ihren machtvollen Zeiten, sehr viel rabiater mit echten oder vermeintlichen Abweichlern umgegangen als heute die EU.

Also: Österreichs Mitgliedschaft in der Europäischen Union blieb völlig unangetastet. Kein einziger Artikel des EU-Vertrages wurde auf Eis gelegt, keine einzige Subvention gekürzt, auch kein einziger österreichischer EU-Abgeordneter nach Hause geschickt. Es passierte eigentlich gar nichts Greifbares - es sei denn, man hielte die Stornierung des Kaufs von sechs österreichischen Rettungswagen durch die Belgier für etwas Greifbares.

Schön blöd waren die sogenannten Sanktionen, die keine Sanktionen waren, trotzdem. Und zwar deswegen, weil sie der FPÖ und ihrer partiell widerwärtigen Politik letztendlich mehr genutzt als geschadet haben.

Das Bannflüchlein gegen Wien endete nicht so, wie früher Bannflüche zu enden pflegten: Damals, in den alten Zeiten, kroch selbst ein König zu Kreuze, so wie das Heinrich IV. im Jahr 1076 zu Canossa bei Papst Gregor VII. tat. Wolfgang Schüssel und seine Regierung waren zwar konsterniert und beleidigt und getroffen, aber nach Brüssel krochen sie nicht. Immerhin: Haider trat ein paar Monate nach dem Bannflüchlein formell vom FPÖ-Vorsitz zurück, um seine Satrapen zu installieren und weiterhin inoffizieller Vorsitzender zu sein. Ansonsten hatte die humanitäre Intervention der 14 EU-Staaten in Wien, geboren in einem gruppendynamischen Rausch der 14 Regierungschefs, einen ebensolchen Rausch in Österreich zur Folge - weil auf einmal selbst harte FPÖ-Gegner in Widerstand und Empörung gegen die Interventionisten vereint waren.

Nicht unsympathisch

Die sogenannten Sanktionen, die vor zehn Jahren ganz Europa in Aufruhr versetzten, waren in erster Linie eine symbolträchtige politische Kinderei. Sie waren eine Kraftmeierei ohne Kraft, aber mit Inbrunst: 14 EU-Staaten beschlossen, die jeweiligen bilateralen Beziehungen zum 15. Mitgliedsland, also zu Österreich, einzustellen. 14 EU-Staaten vereinbarten, österreichische Botschafter nur noch auf "technischer Ebene" zu empfangen und Bewerbungen aus Österreich für EU-Posten nicht mehr zu unterstützen.

Offizielle Maßregeln gegen Österreich gab der EU-Vertrag nicht her, also griff man zu inoffiziellen, zu informellen Maßnahmen. Die Aktion wurde, und damit war sie doch irgendwie halboffiziell, von der portugiesischen Ratspräsidentschaft verkündet.

Ich gebe zu, dass mir die EU-Intervention nicht unsympathisch war. Sie entsprang einem Gefühl, wie ich es selbst immer hatte, wenn ich durch Kärnten gefahren bin: So viel Dummheit in einem Land von solcher Schönheit! Da möchte man bei jedem dieser unsäglichen Wahlplakate anhalten, die gehässigen Antiausländersprüche zerreißen und in den Müll werfen. Aber man darf sich wohl auch nicht aus ehrlicher und berechtigter Empörung dazu hinreißen lassen, den politischen Stil der Haideristen zu kopieren. Empörung ist selten ein guter Ratgeber. Auf politische Sauereien muss man mit kühlem Kopf reagieren. Der hat den Interventionisten gefehlt. Sie hätten im Übrigen zuwarten sollen. So aber entstand der Eindruck: Die neue österreichische Regierung wird schon vor der Tat bestraft.

Wenn man sich in uralten Tagen von der Haftung für die Untaten eines Verwandten lossagen wollte, zerbrach man Erlenzweige über seinem Kopf und warf sie dann in alle vier Himmelsrichtungen; sodann erklärte man öffentlich, mit den Untaten der Sippenmitglieder nichts mehr zu tun haben zu wollen. So steht es in der Lex Salica aus dem Jahr 511 - und so ähnlich verhielt es sich mit der Warnung der 14 EU-Mitglieder vor der Politik der FPÖ. Aber die Lex Salica ist nun einmal nicht mehr in Kraft, nicht einmal in Österreich und Bayern. Das Tamtam war groß, die Substanz gering - der Ertrag negativ. Die Anti-Haider-Intervention ist der fehlgeschlagene Versuch eines großen Exorzismus.

Natürlich war eine Warnung vor der rassistischen Politik des Jörg Haider und seiner seltsamen politischen Spezln grundsätzlich richtig, natürlich bestand Anlass, die extreme Ausländerfeindlichkeit und die unverhohlen braunen Sprüche anzuprangern. Natürlich hatte Haider Sätze von sich gegeben, die einem Demokraten die Haare zu Berge stehen lassen: Er hatte gegen den Verfassungsgerichtshof gehetzt, die Gewaltentrennung infrage gestellt, den Rechtsstaat beschimpft. Er hatte gegen Justiz und Verfassung ähnlich Bösartiges gesagt wie in Italien Berlusconi. Aber da gab und gibt es zwei wichtige Unterschiede: Zum einen hat die FPÖ -Politik, anders als die Brachialpolitik Berlusconis, neonazistische Wurzeln. Zum anderen ist halt Italien viel größer als Österreich. Und gegen die Kleinen oder vermeintlich Kleinen traut man sich eher. Und so steckt auch in der Symbolpolitik ein gutes Stück Realpolitik.

Die Anti-Haider-Intervention ging von Deutschland aus. In Deutschland kannte man ei_ne haiderähnliche Agitation nur von den zwei rechtsextremistischen Parteien, der NPD und den Republikanern. In Deutschland gab es daher die Sorge, eine Wiener Regierung mit einem Rechtsaußen-Koalitionspartner könnte die Rechtsaußenbewegung in Deutschland befruchten und nobilitieren. In Deutschland saßen und sitzen die Braunen zwar nicht im Bundesparlament, aber immerhin in etlichen Landtagen, zumal in Ostdeutschland.

Fanal gegen rechts

Die deutsche Bundesregierung mit dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder und dem grünen Außenminister Joschka Fischer an der Spitze betrieb daher die Intervention der 14-EU-Staaten als eine Art Fanal gegen rechts - und man überzeugte auch die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft von der Notwendigkeit dieses Fanals. Die Intervention war aus Sicht der deutschen Regierung eine Maßnahme der Spezialprävention gegen Österreich und der Generalprävention gegen rechte Ultras im übrigen Europa. Dass sich anderswo - in Belgien beispielsweise - der Rechtsradikalismus auch schon ganz schön breitgemacht hatte, wurde übersehen. Aber Hitler war ja auch nicht Belgier.
Der von der deutschen Bundesregierung betriebene europäische Abgrenzungsbeschluss war das Pendant zum NPD-Verbotsantrag in Deutschland.

Dieser Verbotsantrag, der nach langen und heftigen Debatten Anfang 2001 beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gestellt wurde, endete, wie zuvor die "Sanktionen" gegen Österreich, in kompletter Erfolglosigkeit. Dieser Antrag auf ein Verbot der NPD, der schließlich daran scheiterte, dass der Staat seine V-Leute bei der NPD nicht aufdecken wollte, wurde von der deutschen Politik verkündet, als handle es sich um die finale Maßnahme zur Austreibung des Neonazismus, als handle es sich um den großen Exorzismus solemnis, der von Besessenheit befreit. Man tat so, als könne man mit einem NPD-Verbot den Rechtsextremismus als ideologisch-kulturelles Phänomen und Gewaltpotenzial ausschalten.

Dieser Verbotsantrag war auch Ausdruck der Fixierung der Politik auf die Täter; um deren Opfer - Ausländer, Flüchtlinge, Schutzbedürftige - kümmerte man sich kaum.

Es verhielt sich mit diesem Antrag auf Verbot der NPD in Deutschland also so ähnlich wie mit dem Interventionsbeschluss der 14 EU-Staaten: Man tat so, als handle es sich um die Fernbedienung für das Fernsehgerät, man tat so, als müsse man nur aufs Knöpfchen drücken - und schon habe man ein anderes Programm. Aber die Fernbedienung funktionierte nicht, in Österreich schon gleich gar nicht. Es war schon ein großer Erfolg Haiders und der FPÖ, dass die Sammelkritik der 14 EU-Länder europaweit als "Sanktion" kommuniziert wurde.

Aus dem Symbolakt der 14 wurde so ein angeblich drakonischer Akt, der den Stolz vieler Österreicher beleidigte - und der nicht zu einer Abgrenzung und Loslösung von der FPÖ, sondern vielfach eher zu einer Solidarisierung mit ihr führte. „Sanktion" kommt vom lateinischen „sanctio", was so viel wie "Heilung", "Anerkennung" und "Bestätigung" bedeutet; und "sancire" heißt "heiligen". Am Ende der Aktion stand genau dies: die Anerkennung einer fatalen österreichischen Politik als letztendlich doch irgendwie ganz erträglich.

Nicht Schlüssel und Haider gingen nach Canossa, sondern Canossa schickte eine Abordnung nach Wien - in Gestalt der drei Weisen, die einen "Lagebericht" zu schreiben hatten; mithilfe der drei Weisen und ihres Lageberichts schlich sich die EU dann wieder aus der Anti-Österreich-Politik hinaus. Dieser Bericht von Martti Ahtisaari, Jochen Frowein und Marcelino Oreja, genannt "Weisenbericht", war ein teurer Preis für die Beendigung der symbolischen Intervention.
Es wird nämlich darin unter anderem der beschämenden österreichischen Ausländer-, Flüchtlings- und Migrationspolitik ein falsches Zeugnis ausgestellt: Es wird, beispielsweise, so getan, als sei es in Europa, wie in Österreich, allgemein üblich, minderjährige Flüchtlinge in Schubhaft zu nehmen, sie also unter unzumutbaren Verhältnissen in Haftanstalten einzusperren. Letztlich bekam mit dem Weisenbericht eine intolerable österreichische Politik, ob mit oder ohne Beteiligung der FPÖ, ein europäisches Testat: passt schon, irgendwie. Es passt aber nicht. Und so waren die letzten Dinge eher schlimmer als die ersten.

Außer Spesen nichts gewesen? War die symbolische EU-Intervention ein kompletter Schmarren von vorn bis hinten? Ganz so ist denn doch nicht. Die sogenannten Sanktionen waren ein untauglicher Versuch an einem untauglichen Objekt - aber zur Demonstration einer guten Absicht und in Verfolgung eines wichtigen Ziels: Europa ist nicht nur eine Gemeinschaft der Pfeffersäcke, die EU nicht nur eine Wirtschafts- und Währungsunion; sie ist auch eine Werteunion. Es gibt freilich fürwahr bessere Aktionen, dies zu zeigen.

Gleichwohl sollte der Ärger in Österreich nach zehn Jahren verflogen sein. Europa ist das Beste, was den Deutschen, Franzosen und Italienern, den Österreichern, Tschechen und Belgiern, den Polen und den Spaniern in ihrer langen Geschichte passiert ist. Europa ist die Verwirklichung so vieler alter Friedensschlüsse, die den Frieden dann doch nicht gebracht hatten. Die Europäische Union ist das Ende eines tausendjährigen Krieges, den fast alle gegen alle geführt haben. EU ist das Kürzel für das goldene Zeitalter der europäischen Historie. Das klingt emphatisch, aber es ist so. Die kurze Geschichte der so genannten Sanktionen gegen Österreich ist ein kleiner, eher unbedeutender Fleck auf dem Glanz. Diese kleine Sanktionsstory gehört zu den Irrungen und Wirrungen, die es auch in einem goldenen Zeitalter gibt. Auch in einem Paradies gibt es Probleme.
Wunder Europa

"Ich war Europas letzte Chance" - so hat Adolf Hitler vor seinem Ende im Bunker gesagt. Es war eine dämonische "Chance". Hitler hat auch das noch zerstört und zerschlagen, was vom alten Europa nach dem Ersten Weltkrieg noch übrig geblieben war, er hat die Weltgeltung Europas und dessen politischen und kulturellen Anspruch schauerlich verspielt. Nicht nur Deutschland, auch Europa war 1945 am Ende.

Was dann in Europa geschah, ist mit dem neuerdings vielstrapazierten Wort "Wunder" allerdings nur unzulänglich beschrieben. Das "europäische Kleinstaatengerümpel", wie Hitler es verächtlich genannt hatte, tat sich zusammen, überwand den Nationalismus und uralte Feindschaften. Und so ist die Geschichte der EU eine Geschichte der Quadratur des zerstörten Kreises. Dabei gibt es, natürlich, wie vor zehn Jahren, Schwierigkeiten.

Aber auch sie gehören zu dieser Geschichte. (Heribert Prantl, DER STANDARD, Printausgabe, 30./31.1.2010)