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Setzt ihre Reihe der ungewöhnlichen autobiografischen Bildungsromane fort: Marie-Thérèse Kerschbaumer.

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Marie-Thérèse Kerschbaumer hat ihren neuesten Roman im Untertitel "Ein Fragment" genannt und ihn als "Viertes Buch" in den werkgeschichtlichen Zusammenhang der bisher erschienenen drei Barbarina-Bücher gestellt. Damit wird die Reihe der ungewöhnlichen autobiografischen Bildungsromane - Die Fremde (1992), Ausfahrt (1994) und Fern (2000) - fortgeführt, auch wenn im Mittelpunkt des Vierten Buchs nicht mehr das jugendliche Ich steht, das noch die Zukunft vor sich hatte und nach Kunst und Wissen strebte, so arm und benachteiligt es auch aufgrund seiner Herkunft war. Barbarina kannte noch die größere Hoffnung im Nachkriegsösterreich, die für das Ich der Gespräche in Tuskulum längst verspielt ist. Ihr tatkräftiges Verlangen nach jenem anderen Wissen trug die Erinnerung an den weiblichen Namen des Widerstands weiter, der in Kerschbaumers avantgardistischem Werk zum Ereignis der Literatur der Achtzigerjahre geworden war.

"Ein Fragment" nennt die Autorin das neue Buch, weil die Briefrede in Bruchstücke zerfällt, in übergangslos aneinandergefügte Fragmente verschiedenster Textsorten, Textgattungen und Themen, wie Strandgut zusammengeworfen. Auch die allgemeine Historie erscheint als Auflösung der alten Formen und des alten Anstands, als Untergang, der mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Habsburger-Monarchie in ein Endstadium eingetreten ist: "Als alles vorbei und zu spät war, neunzig Jahre lang. Und nicht aufhörte und keine Ende nahm, zu verblassen und versinken." Mit den vorangegangenen Barbarina-Romanen teilt das Vierte Buch noch die Freude am Lernen, die Faszination der alten Sprachen, der Geschichte der griechisch-römischen Antike, der Natur- und Erdgeschichte, noch immer gibt es die Erinnerung an die große, renaissancehafte Erfahrung der Vita nuova, die Idee der Befreiung durch Wissen, Bildung und Kunst, aber, in diesem letzten Buch, bemühter, disparater, weltfremder - obwohl, oder vielmehr weil, so oft und so gelehrt vom antiken Rom als der Hauptstadt der Welt die Rede ist und vom römischen Kaiser Claudius und der kindlichen Kaiserin Messalina.

Der Titel von Kerschbaumers Buch bezieht sich auf Ciceros Tusculanae disputationes, die 45 v. Chr. geschrieben wurden. Der Titel verweist auf den Villenort Tusculum in der Nähe Roms. Mit der Wendung "Wir haben bislang, o Freund, vom Tod und vom Schmerze geredet, offen vom Schmerz, verdeckter vom Tod" leitet der Roman hinüber zu Ciceros Philosophie der stoischen Selbstbehauptung, der angestrebten Freiheit von den Affekten und der Gleichgültigkeit gegen Schmerz und Tod, einer Philosophie, von der das schreibende Ich, das sich zu ihr flüchtet, in unserem Jahrhundert unberaten bleiben muss: "Wie sollen wir nicht unsere kriegsversehrte Umgebung sehen" , "wie soll da nicht Bekümmernis uns quälen, o Tullius? Wie lange schon, mein Rhetor, lausche ich deinem Rat."

Aber würde Cicero nicht ein "cave librum" vor Kerschbaumers Buch setzen? Fände er von die-sem verschwörerisch inkorrekten Buch seine Geduld nicht über alle Grenzen hinaus beansprucht? Ihre Gespräche in Tuskulum sind ein äußerster Gegensatz zur stoischen Tugend der Mäßigung und Zurückhaltung, im politischen Denken wie in der literarischen Form. Erratische Monologe, die Bruchstücke erst im Nachhinein als Teile thematischer und diskursiver Felder erkennbar. Reflexionen über das Lesen, über Kunst und Wissen, Proust'sche Erinnerungsszenen mit ihrem Sinn für Interieurs und Kleider und Namen, Szenen aus dem Leben Messalinas, der kindlichen Frau des Kaiser Claudius, dargestellt wie Szenen aus einem Ausstattungsfilm, unmittelbar darauf ein kurzes Stück Wissenschaftsprosa über die Alpen, etymologische Studien, Betrachtungen über den Tod und über das Leben, über die Sterne, das Licht und, gegen Ende des Buchs, annähernd zwanzig Seiten, die Genealogien römischer Herrschaftshäuser in allen Filiationen, mit unbeirrbarer Akribie dargestellt.

Es gibt im letzten Buch der Barbarina-Romane die Vorstellung einer alles erfassenden geschichtlichen Abwärtsbewegung, wodurch die Anciens Régimes eine geisterhafte Attraktion auf das sprechende Ich ausüben und die Frage des Widerstands in ein Zwielicht gerät, weil ja die Erhebungen und Revolutionen diese Talwärtsfahrt nur zu beschleunigen scheinen - "Der Tag, der die Freiheit bringen sollte. Wovon? Die Lösung aus den Fesseln der Religion: Was brachte das?"

Gegen diese Neigung der späten Barbarina, nur ein Verblassen und Versinken der alten Pracht zu sehen, möchte ich, ein alter Verehrer der plebejischen Barbarina der früheren drei Bücher, sie in Schutz nehmen gegen das Gottesgnadentum des Ancien Régime und Barbarinas schönes Lichtberg'sches Ich als "Wir" verteidigen - "Wir, von Gottes Ungnaden Tagelöhner, Leibeigene, Neger, Fronknechte etc." Es ist der jugendlichen Barbarina so gut gestanden, hat sie schöner gewandet auf ihrem Bildungsweg als all die Adelstitel und endlosen Genealogien der römischen Clans und die schönsten Kleider und Gesten der "Frauen des Ancien Régime" .

Warum überhaupt diese Sehnsucht nach den "edlen Ahnen" , warum die endlosen Genealogien der römischen Herrschaftsgeschlechter im Buch einer Dichterin, der doch die literarischen Werke ihren eigenen Glanz verleihen? Zu Recht wird die Autorin der neuen Tuskulanen in einer Besprechung als große Dame der österreichischen Literatur bezeichnet. Und man müsste sogar sagen: Es hat noch nie eine österreichische Literatur gegeben, wo so viele Autorinnen ein so großartiges literarisches Nouveau Régime begründet haben. (Hans Höller, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 29./30.01.2010)