"Die Größe Geschlecht muss mit eingeschlossen werden in die Betrachtung", sagt Alexandra Kautzky-Willer, "man weiß so vieles einfach nicht. Die Gender Medizin ist insofern ein uferloses Forschungsgebiet, für das man ExpertInnen aus allen Disziplinen braucht."

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Auf Geschlechtervorurteile stößt man im Alltag schnell einmal: Wenn es heißt, Frauen reden viel, können nicht rechnen oder einparken, Männer dafür nicht zuhören und geduldig sein. Wie aber kommt es, dass dort, wo aus Vorurteilen Fakten oder Entkräftungen werden, das Geschlecht erst jüngst eine Rolle in der Betrachtung spielt: In der Medizin nämlich, wo der "kleine Unterschied" gar eigene Disziplinen geschaffen hat. Dass dieser Unterschied so klein gar nicht sein muss und auch nicht bei den Fortpflanzungsorganen aufhört, zeigen immer mehr Studien, die das Geschlecht neben anderen Faktoren als wichtige Größe miteinbeziehen.

Die erste und bislang einzige Professorin, die Österreich auf diesem Gebiet zu bieten hat, ist Alexandra Kautzky-Willer: Als Lehrstuhlinhaberin für Gender Medicine an der Medizinischen Universität Wien ist es seit Jänner ihre Aufgabe, die Fachrichtung, die auf dem Gender-Aspekt fußt, vor allem in der Medizin selbst zu etablieren und die unterschiedlichen Disziplinen zur Zusammenarbeit zu bringen. Im dieStandard.at-Interview erzählt Kautzky-Willer vom wissenschaftlichen Protoyp Mann, von Nachteilen im Gesundheitswesen und wo sie Frau und speziell die Migrantin betreffen, über die Chancen von Medizinerinnen und die Schwierigkeiten für den weiblichen Nachwuchs beim Aufnahme-Test sowie von der Aussicht auf eine personalisierte Zukunft der Medizin.

dieStandard.at: Was will die Gender Medizin?

Alexandra Kautzky-Willer: Die Gender Medizin ist ein neuer Forschungsansatz, der sich nicht nur mit Krankheitsberatung und -entstehung beschäftigt, sondern auch mit Gesundheitsverhalten und Prävention von Krankheiten. Und zwar aus der Geschlechterperspektive. Hier wird beleuchtet: Gibt es Unterschiede? Es ist nicht so, dass die Gender Medizin sagt, es ist immer und unbedingt anders zwischen den Geschlechtern. Es kann durchaus sein, dass es ein wichtiges Ergebnis ist, wenn keine klinisch relevanten Daten-Unterschiede feststellbar sind. Geschlecht muss nicht immer der entscheidende Faktor sein, ebenso wenig wie Alter. Aber dennoch sind das Größen, die berücksichtigt werden müssen.

dieStandard.at: Warum hat die Medizin so spät erkannt, dass die Größe Geschlecht eine Rolle spielt?

Kautzky-Willer: Das ist tatsächlich unglaublich aus heutiger Sicht, erklärt sich aber durch die Medizingeschichte. Die Untersuchungen fanden früher primär am Mann statt, Prototyp männlich, weiß, mittleren Alters. Die Forschung hat Frauen ausgeschlossen, was teilweise auch begründet ist. Wenn ein neues Medikament getestet wird und eine ungeplante Schwangerschaft auftritt, gibt es vor allem seit Contergan Ängste, dass das Kind geschädigt werden könnte. Weil die Frau schwanger wird, weil sie Zyklusschwankungen haben kann, hat die Forschung befürchtet, dass sich das auf die Pharmakogenetik auswirkt. Was es ja auch tut, aber wir wissen nicht mehr darüber, weil eben Frauen ausgeschlossen wurden in vielen Bereichen.

Es gab zu Frauen einfach keine Daten. Dabei ist es sehr wichtig, dass man auch bei Frauen, die im gebärfähigen Alter sind und bestimmte Medikamente nehmen, weiß, sind diese schädlich oder nicht. Das ist eine Gratwanderung. Insofern ist Gender Medizin schon auch Frauenforschung, weil die Frauen benachteiligt waren.

dieStandard.at: Bevorzugt die Gender Medizin Frauen also?

Kautzky-Willer: Das ist ein völliger Blödsinn – im Prinzip. Aber eben nicht ganz, deswegen, weil dieser Nachholbedarf da ist. In dem Moment, wo ich etwas aufholen muss, weil früher andere bevorzugt waren – in der medizinischen Untersuchung eben Männer – muss ich meinen Schwerpunkt so setzen, um auf gleich zu kommen. Im Prinzip aber gilt die Gender Medizin für beide Geschlechter, durch ihre Ergebnisse nutzt sie dem Mann genauso. Stichwort Osteoporose: Das ist ein "Frauenthema", bei dem die Männer schlechter versorgt waren. Hier wurden die Medikamente über lange Zeit nicht an Männern getestet. Oder psychische Erkrankungen wie die Depression. Das ist mittlerweile auch gut bekannt, dass die bei Frauen sehr einfach diagnostiziert wird – oft überdiagnostiziert, während sie bei Männern sehr schlecht erkannt wird, und scheinbar auch die Ärzteschaft nicht so bereit ist, Männern psychische Erkrankungen zuzuschreiben.

dieStandard.at: Da wären wir bei den psychosozialen Faktoren.

Kautzky-Willer: Ja, bei den Rollenbildern. Die sitzen so tief, bis hin zu den Hieroglyphen lassen sich solche Zuteilungen dokumentieren. Wo man wirklich gut sieht: Die Frau ganz in sich zurückgezogen, passiv, auf Reproduktion beschränkt, der Mann in allen Tätigkeiten abgebildet, instrumental, aktiv. Das spielt nach wie vor hinein.

Die Gender Medizin steht ja auf zwei großen Pfeilern: Der eine ist der biologische Unterschied, da fällt das Offensichtliche, der "kleine Unterschied", die Anatomie, die (Sexual)Hormone, die Geschlechtschromosomen sowieso, hinein. Der andere Pfeiler: Die psychosozialen Faktoren, die Kultur, die Umwelt, die Lebenswelten von Frauen und Männern, die sehr unterschiedlich sein können. Über einen Kamm wird dennoch nicht geschoren. Es ist nicht so, dass Gender Medizin immer nur Schwarz/Weiß-Antworten braucht. Das ist manchmal sehr wichtig, aber letztlich ein Faktor in einem großen Ganzen, das man immer im Blick haben muss.

dieStandard.at: Woher kam dann letztlich doch die Überlegung, das Geschlecht mehr zu berücksichtigen?

Kautzky-Willer: Es gab im pharmakologischen Bereich Fälle, die den Prozess anstießen. Aber hauptsächlich ging die Gender Medizin von der Frauenbewegung aus. Über die kam es dann zur Frauenforschung, die Schwerpunktzentren für "Women's Health" etablierte, in denen sich nicht nur mit gynäkologischen Aspekten und Geburtshilfe auseinander gesetzt wurde. Die Bewegung kam aus den Vereinigten Staaten, wo der Gender-Aspekt schon zu einer Zeit verankert war, in der wir hier noch nicht einmal darüber geredet haben. Schweden war dann in Europa Vorreiter, das Karolinska-Institut in Stockholm war eines der ersten, die sich etabliert haben. Die Charité in Berlin zog bald nach. Sonst sind wir in Wien mit der Professur für Gender Medizin schon sehr gut und da hat die MUW (Medizinische Universität Wien, Anm.) auch eine Vorreiter-Rolle inne.

Generell geht der Trend in der Medizin mittlerweile zur personalisierten Medizin. Auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen, alles zu berücksichtigen, die Lebensweise, die Kultur, das Umfeld. Auch über die Genetik findet man immer mehr heraus. Damit die Therapien immer mehr maßgeschneidert werden können. Alter, Geschlecht, Ethnie sind dabei die wesentlichen Faktoren. Gerade bei MigrantInnen kommt der Faktor Geschlecht besonders zum Tragen. Migrantinnen sind in der Regel viel schlechter versorgt als Migranten.

dieStandard.at: Wie erklärt sich das?

Kautzky-Willer: Wir haben im Diabetes Bereich eine kleine Untersuchung gemacht, in der wir erhoben haben, mit welcher Einstellung die MigrantInnen ihre Medikamente einnehmen. Da gab es keine Unterschiede zu ÖsterreicherInnen, die war gut. Das migrantische Kollektiv war generell jünger als das österreichische, und dicker, was mit dem sozialen Status zusammenhängt. MigrantInnen haben dadurch ein deutlich höheres Diabetesrisiko – und Migrantinnen nochmals ein doppelt so hohes wie Migranten. Das hängt teilweise auch noch mit der männlichen Idealvorstellung von der Frau zusammen. In manchen Gebieten gibt es Macho-Wünsche nach Übergewicht, die Frau soll ja nicht so "dünn" sein. Aber besonders ausschlaggebend für den Unterschied ist das Sprachproblem, das vor allem bei Frauen vorhanden ist. Das ist ganz entscheidend. Sie können gar nicht so medikamententreu sein, weil sie oft schlecht oder gar nicht verstehen, wenn man ihnen erklärt, warum das Medikament und wie es eingenommen werden muss.

dieStandard.at: Auch wenn die Medizin über Männer viel mehr weiß als über Frauen: Warum sterben Männer im Durchschnitt dennoch früher?

Kautzky-Willer: Die Frauen haben einen biologischen Vorteil. Es gibt eine ganz interessante Untersuchung über Mönche und Nonnen, die oft anekdotisch erzählt wird. Die wurden mit Männern bzw. Frauen, die nicht im Kloster leben, verglichen. Zwischen Frauen und Nonnen wurde kein Unterschied in der Lebenserwartung festgestellt, aber die Mönche haben genauso lang gelebt wie die Nonnen. Da kann man viel hineininterpretieren. Feststeht aber, dass bei fast allen Tierarten die Weibchen länger leben, die zäheren sind. Das dürfte schon so angelegt sein wegen der Schwangerschaften und Geburten.

Wir Frauen sind aber sowieso drauf und dran, diesen Vorteil wettzumachen mit der Emanzipation (lacht). Es ist so, dass sich die Lebenserwartung der Männer steiler nach oben entwickelt als die der Frauen – aber auch die steigt. Der Unterschied, der noch besteht, von fünf, sechs Jahren, der wird schmäler. Ein wichtiger Faktor dabei ist, dass Frauen immer früher und viel rauchen, mehr als Männer. Das wirkt sich bei Frauen aber besonders schlecht auf die Gefäße aus – ein Grund für den Anstieg der Herz-Kreislauf-Ekrankungen bei Frauen. Die Lebenserwartung der Männer steigt also deshalb stärker, weil sich die Frauen mit ihrem Lebensstil eher schaden, und nicht, weil die Männer gesünder leben.

dieStandard.at: Was ist bei Patientinnen anders als bei Patienten?

Kautzky-Willer: In der Kommunikation und im Zugang zur Compliance (Therapietreue, Anm.) gibt es spannende Unterschiede, die relativ wenig untersucht worden sind. Es gibt Daten, die zeigen, dass die Ärztin/Patientin-Beziehung für Frauen doch wichtiger ist, die emotionale Ebene – da bestätigt sich ein Klischee. Sie legen Wert auf gute Betreuung und eine gewisse emotionale, zwischenmenschliche Tiefe. Ärztinnen machen das auch mehr als Ärzte, sie nehmen sich mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten, setzen sich mehr mit Details auseinander und gehen auf das psychische Umfeld ein. Das zeigen Studien, ebenso wie andere zeigen, dass "mehr Zeit" nicht "qualitativ besser" bedeutet. Männliche Patienten schätzen diese Betreuung weniger. Die haben lieber klare Anweisungen und Empfehlungen, wie sie was umsetzen sollen, und weniger Gerede. Das ist aber schlechter bei psychischen Problemen. Auch beim Mann sollte man versuchen, das Gesamtbild zu bekommen.

dieStandard.at: Der Frauenanteil in der Medizin wird immer höher: Denken Sie, dass die Medizin dadurch weiblicher wird oder die Medizinerinnen männlicher?

Kautzky-Willer: Prinzipiell wird die Medizin weiblicher. In einigen Ländern mit freiem Zugang ist das schon recht deutlich zu bemerken. Bei uns kommt es sehr auf die Fachrichtungen an. Es studieren gleich viele Frauen wie Männer, durch den Eignungstest sind aber die Frauen nun wiederum benachteiligt. Sie haben schlechter abgeschnitten – warum, das wollen wir uns auch ansehen. Ist es Stress, stecken unterschiedliche Fähigkeiten dahinter? Es gibt ein paar Hinweise aus Studien, dass Männer besser bei räumlicher Vorstellung abschneiden, Frauen dafür sprachlich und in Feinmotorik. Wenn dem so wäre, müsste man den Test anpassen, denn der muss immer gerecht sein.

Kautzky-Willer: Warum tun sich Frauen in anderen Ländern beim Aufnahmetest nicht schwerer als die Männer?

dieStandard.at: Es kann an der Schulbildung liegen, wie auch schon diskutiert wurde. Dass Mädchen bei uns vielleicht zu wenig ins Naturwissenschaftliche, Mathematische geführt werden. Das ist genau das, was wir uns in der Untersuchung ansehen wollen. Abgesehen von diesen Zugangsproblemen wird die Medizin aber schon weiblicher, weil dennoch mehr Frauen zum Studium kommen und es auch zu Ende bringen. Es ist ja nicht so, dass sie im Studium schlechter als die Männer sind und verloren gehen, ganz im Gegenteil. Allerdings wenn man den weiteren Verlauf ansieht, die Facharztausbildung, wer die guten Positionen, die Führungsposten hat, da wird es nach wie vor ganz, ganz dünn für Frauen. Gerade in der Medizin ist die gläserne Decke stärker als in anderen Bereichen. Das ist die Frage: Wo die Medizin letztlich weiblicher wird. An der Basis nämlich. Frauen, die sich bestimmte männliche Rollenbilder aneignen oder lernen, dass man sich durchsetzen muss, konsequent sein muss, dass die Karriere machen – das wird schon so sein. Aber das ist ein kleiner Teil.

dieStandard.at: Als erste und einzige Professorin für Gender Medizin in Österreich sind sie fürs Networking zuständig. Wie geht das voran?

Kautzky-Willer: Es gibt auch mittlerweile fast überall jemanden, die/den das interessiert und die/den man als Mitkämpfer/in findet. Ich hatte ja schon ein kleines Netzwerk, weil ich in der Diabetes- und Adipositas-Forschung verwurzelt bin. Das sind Volkskrankheiten, die mit fast allen anderen häufigen Erkrankungen in Zusammenhang stehen. Daher ist man interdisziplinäres Arbeiten sowieso gewohnt. Etwas gemeinsam zu erarbeiten, zu erforschen, nicht zu sehr fokussiert zu sein auf ein kleines Teilgebiet und auf sich selbst, das habe ich immer sehr geschätzt. Das ist also die Basis, da kann man starten. Das muss sich natürlich nun weiter verzweigen, auch international. Hier die Trends mitzubestimmen, vielleicht auch bald vorzugeben. Das ist die Vision (lacht).

dieStandard.at: Wir schreiben das Jahr 2025: Wo steht die Gender Medizin?

Kautzky-Willer: Ich wünsche mir, dass ich in fünfzehn Jahren nicht mehr erklären muss, was Gender Medizin überhaupt ist (lacht). Dass es eine selbstverständliche Disziplin ist, die integriert ist, dass die MUW eine internationale Spitzenposition dabei hat. Und dass man darüber ganz unbefangen reden kann und Männer und Frauen wissen, dass es für sie sinnvoll ist. (dieStandard.at, 8.2.2010)