Erschienen bei Edition Filmmuseum, Region 0

 

 

Foto: Filmmuseum

"Alle Bürger der Union der SSR im Alter von zehn und 100 Jahren müssen diesen Film sehen." Das schreibt der russische Avantgardist Dziga Vertov im Jahr 1926 über seinen Film "Ein Sechstel der Erde" ("Sestaja cast mira"), eine Auftragsarbeit, welche die Errungenschaften der noch jungen Sowjetunion, im Speziellen der Gostorg, der staatlichen Handelsorganisation, thematisieren sollte. Von Vertov, dem unermüdlichen Entdecker filmischer Ausdrucksweisen, war freilich kein herkömmlicher Dokumentarfilm zu erwarten. Er selbst sprach - kein Freund zurückhaltender Worte! - von einem Kinofilm, der "außerhalb aller Definitionen" liege und einen "Rekord revolutionären Ideengehalts" aufstellen würde. Die Übersteigerung und Überwindung alles schon Dagewesenen war oberstes Gebot.

"Ein Sechstel der Erde" ist ein besonders anschauliches Beispiel dafür, was Vertov mit dem filmischen Auge, dem "Kinoglaz", im Sinne hatte: Seine "Kinoki" sind keine einfachen Filmemacher, die nüchtern von Vorgängen berichten, sondern euphorisierte Boten der revolutionären Wende zur Moderne. Aus den entferntesten Winkeln des Landes schaffen sie Bilder von verstreut lebenden Volksgruppen herbei. Einfache Bauern, Jäger, Fischer und Handwerker, die nun in eine filmische Symphonie eingehen, in der das Verbindende über das Trennende gestellt wird: "Ihr", heißt es immer wieder emphatisch in den dynamischen Zwischentiteln - ein jeder und eine jede wird direkt angerufen, seine Rolle im produktiven Ganzen anzuerkennen. Mit emanzipatorischer Kraft: Ein eigener Abschnitt widmet sich beispielsweise Frauen, die in Unfreiheit leben.

Auf einer mit zahlreichen Extras versehenen, liebevoll edierten Doppel-DVD aus der Edition Filmmuseum - Ergebnis eines Forschungsschwerpunkts in Wien - sind nun erstmals "Ein Sechstel der Erde" und "Das Elfte Jahr" ("Odinnadcatyi"), Vertovs nachfolgender Film über die Elektrifizierung des Landes, vereint. Der britische Komponist Michael Nyman, bekannt für seine Arbeit mit Peter Greenaway, hat zu beiden Stummfilmen neue Filmmusiken komponiert, die das strenge kompositorische Prinzip von Vertov nachgerade zurückhaltend mitberücksichtigen.

Als besonderen Zusatz gibt es einen Beitrag über ein filmhistorisches Fundstück: Der deutsche Kommunist Viktor Blum hatte für seinen Kompilationsfilm "Im Schatten der Maschine" Ausschnitte aus ukrainischen Filmen, darunter "Das Elfte Jahr", zweckentfremdet. Der Klau wurde zum Fundstück, offenbart das Material doch heute das verlorengeglaubte Finale Vertovs. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.2.2010)