Asa (Askhat Kuchinchirekov), aus der Marine entlassen und jetzt erfolglos auf Brautschau. Denn "ohne Frau keine eigene Herde" - die einzige mögliche Kandidatin heißt wie der Film:"Tulpan".

Foto: Polyfilm

Anlässlich einer Personale ist der russische Regisseur zu Gast in Wien.

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Wien - Momentaufnahmen aus dem Alltag kasachischer Nomaden:Eine Frau macht Essen. Eine Kuh steckt mit dem Kopf in einer Milchkanne fest - eine ganze Familie ist bald damit beschäftigt, sie zu befreien. Ein bitterlich greinendes Kamel bekommt ein Nasenpiercing, und ein reichlich erschöpftes Kleinkind fällt mitsamt seiner Reisschüssel um.

Der kurze Film, der diese mehr oder weniger dramatischen Begebenheiten lakonisch verzeichnet, heißt Paradise/Schastje. 1995 machte er international auf Dokumentarfilmfestivals Furore. Mehr als ein Jahrzehnt und drei nicht minder sehenswerte Dokumentationen später überraschte der russische Regisseur Sergey Dvortsevoy dann mit seinem Spielfilmdebüt: Tulpan, 2008 in Cannes prämiert, erzählt zum einen von einem Schafhirten, der hartnäckig, aber vergeblich um die Titelheldin wirbt, zum anderen lässt er jedoch viel Raum für Beobachtungen der Lebens- und Arbeitsrealität - und wirkt darin fast wie ein Remake von Paradise.

Das sei schon richtig, sagt Sergey Dvortsevoy im Gespräch mit dem STANDARD: "Als ich Paradise gemacht habe, ist mir dieser Mann begegnet. Er war 23 Jahre, kam aus der Armee und konnte keine Frau finden. Ich fand ihn und sein Problem, das kein Einzelfall ist, sehr interessant. Letztlich lässt es sich als Konflikt beschreiben:zwischen dem jungen Mann und dem riesigen Raum der kasachischen Steppe beziehungsweise der Frage, wie man dort leben kann. Ich habe angefangen zu improvisieren, die Geschichte fortzuspinnen. Tulpan ist also aus Paradise herausgewachsen."

Energie und Zeitgefühl

Dvortsevoy, 1962 in Kasachstan geboren, auf Einladung von Filmcasino, dok.at und Navigator Film in Wien, entwickelt seine verhalten tragikomische Erzählung in langen, ungeschnittenen Sequenzen. Darin können sich die Figuren, Situationen und nicht zuletzt die ganz unsentimental, aber nie gefühllos gefilmten tierischen Protagonisten entfalten.

"Für mich sehen die Tiere im Film auch wie menschliche Lebewesen aus - und so behandle ich sie dann. Was die langen Einstellungen betrifft: Ich respektiere Sergej Eisenstein, D.W. Griffith, diese bedeutenden Filmemacher, die die Montage quasi erfunden haben. Aber ich finde, es ist nicht die einzige Ausdrucksform, die das Kino hat. Mir ist bei einem Film wichtig, die Energie der Leute zu spüren, in ihrer Zeit zu sein und nicht den Druck zu fühlen, den der Regisseur mit der Montage macht - so als würde man dauernd meinen Kopf in eine neue Richtung drehen."

Diesmal ist für die entsprechende Bildgestaltung allerdings nicht Dvortsevoys langjähriger Kameramann verantwortlich: "Er war verhindert. Man hat mir die polnische Kamerafrau Jolanta Dylewska vorgeschlagen. Ich war total dagegen, dachte, eine Frau würde das nicht schaffen. Sie kam zu Vorgesprächen, ich wollte sie eigentlich abwimmeln. Aber sie hat sich als sehr stur erwiesen. Am Ende war mir klar, dass ich dumm gewesen war. Sie ist viel stärker als mancher Mann, hat ihre Seele in diese Arbeit gelegt, und ich hätte den Film ohne sie nie machen können. Jetzt will ich sie auch für mein nächstes Projekt haben."

Auch dieses soll ein Spielfilm werden - mit dem Dokumentarfilm hat Dvortsevoy abgeschlossen: "Ich habe im Lauf der Jahre ein moralisches Problem damit bekommen, mit Leuten zu leben, ihre Leben, reale Konflikte und Schwierigkeiten zu beobachten und daraus einen Film zu machen. Ich fand, dass das gefährlich wird, nicht nur für diese Leute, sondern auch für mich. Ich war ein Handwerker geworden, der mit realen Menschen machen konnte, was er wollte. Da habe ich beschlossen aufzuhören."

Angebote erhält der Russe derzeit aus aller Welt: "Ich mache Filme nicht wegen des Geldes, und ich hatte bis jetzt immer Glück, dass ich so leben kann. Ich muss eine starke Leidenschaft für etwas entwickeln. Ich habe schon zehn Drehbücher abgelehnt. Ich warte noch auf etwas, wo sich dieses Gefühl einstellt." (Isabella Reicher, DER STANDARD/Printausgabe, 06./07.03.2010)