Gülhiri Aytaç (li.) und Tülay Tuncel fanden beim dieStandard.at-Streitgespräch wenig Gemeinsamkeiten in Bezug auf Feminismus, Religion und Vorbilder für türkische Frauen.

Foto: Maria Sterkl

"Ich denke schon, dass westliche Feministinnen überheblich sind", sagt Wirtschaftswissenschafterin Gülhiri Aytaç. Anstatt zu versuchen, von Frauen aus anderen Gegenden zu lernen, betrachteten sie die eigenen Lebensmodelle oft als allgemeingültig: "Wenn eine nichtwestliche Frau ein anderes Bild vom Frausein hat, dann soll man das respektieren." Denn zurzeit würden Türkinnen, die Herd und Kinder hüteten, als "Loser" behandelt, die man "erst bekehren muss".

Dem stimmt auch Berufsschullehrerin Tülay Tuncel zu. Anstatt ihnen den Weg weisen zu wollen, sollten Frauenrechtlerinnen eher versuchen, türkischstämmige Feministinnen bei den eigenen Anliegen zu stützen.
Kein Konsens bei Religion

Doch was sind diese Anliegen? Hier finden die Diskutierenden wenig Konsens. Während Tülay Tuncel, die auch Integrationssprecherin der Jungen Generation der SPÖ ist, fordert, Feministinnen in ganz Europa sollten sich solidarisieren, wenn "wieder der Ruf nach der Scharia laut wird", hält Aytaç das für übertrieben: Aus der Nähe betrachtet seien die - das österreichische Rechtssystem prägenden - zentralen christlichen Werte den islamischen gar nicht so unähnlich. Zudem ließen sich viele emanzipatorische Schritte auch religiös begründen. So könne sich etwa eine Frau, die entgegen den elterlichen Vorgaben ein Hochschulstudium belegen möchte, auf "das Bildungsgebot des Islam" berufen.

Überhaupt gebe es "keinen Zwang im Glauben". Wenn türkischstämmige Frauen also - statistisch belegbar - öfter bei Kind und Haushalt bleiben als der Durchschnitt, dann sei das kein Resultat sozialen Drucks, sondern die freie Entscheidung der jeweiligen Frau und somit von allen anderen zu respektieren. Stimmt nicht, meint Tuncel: Berufstätige Frauen seien nicht in allen Familien gern gesehen. "Die Großfamilie hat ein Interesse daran, dass die Frau nicht finanziell unabhängig wird, weil das auch bedeuten kann, dass sie sich anders entscheidet als vorgesehen."
Druck und Gegendruck

Tuncel erzählt von nicht besonders gläubigen Schülerinnen, die dennoch beschließen, ein Kopftuch tragen. Eine Entscheidung, die nicht nur bei einigen Mitschülern auf Ablehnung stößt: "Ich kann bei einer Schülerin mit Kopftuch zu 99 Prozent davon ausgehen, dass sie in einem türkischen Unternehmen arbeiten wird."

Wobei der Druck auch in die Gegenrichtung wirken kann. Sie kenne "sehr viele Frauen", die nach dem Jobverlust des Mannes ihre Kopftuch abgenommen hätten - "um arbeiten gehen zu können", sagt Tuncel, die sich als "klare Gegnerin des Kopftuchverbots" deklariert.

Auch ohne strenge Großfamilie und ohne Kopftuch falle es manchen türkischen Frauen schwer, Karriere zu machen: Es fehle an Vorbildern. Daran geben beide Frauen auch den Medien die Schuld: Wenn von türkischstämmigen Frauen die Rede sei, "dann geht es um Kopftuch, Unterdrückung, um Negatives. Positive Bilder haben im ORF nur in 30 Minuten Heimat, fremde Heimat Platz", kritisiert Tuncel.

Gülhiri Aytaç will selbst ein Vorbild sein und ihre Kinder "gendersensibel" erziehen: "Mein sechsjähriger Sohn hat heute gefragt, ob alle Bürgermeister Männer sind. Dass er das hinterfragt, ist doch ein gutes Zeichen." (Maria Sterkl/DER STANDARD-Printausgabe, 8. März 2010)