"Ich gehöre ja noch zur Generation, die sich nicht bewirbt": Ulrich Peltzer.

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Ausschnitte eines Abends im Rahmen der zweijährigen Veranstaltungsreihe "Doppelte Buchführung"

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Prinz: Ihre Buchführung beschäftigt sich mit dem Jahr 1994. Das ist ihr letztes Arbeitsjahr an dem 1995 erschienen Roman Stefan Martinez. Sie hatten zu dem Zeitpunkt einige Jahre daran geschrieben. Stefan Martinez hätte wohl ein Bestseller werden müssen, um all jene Momente einer doppelten Buchführung wieder zu verwischen, die angesichts solcher Arbeit in der simplen Gegenrechnung von Zeit, Einkommen und Existenz deutlich werden. Oder gibt es hier auch andere, vielleicht sogar wichtigere Ökonomien?

Peltzer: Es gibt, glaube ich, wenn wir über die Ökonomie eines Buches und die Ökonomie des Autors reden, mehrere Bereiche, die man auseinanderhalten sollte. Da ist einmal die Arbeit des Schreibens, also der Vorgang der Produktion, wo es, glaube ich, zwei grundsätzliche Haltungen zu der Arbeit an einem, und da ich Romane schreibe, sage ich jetzt: Haltungen zum Schreiben eines Romans gibt. Das ist einmal, in der Immanenz des Buches vollkommen zu versinken und darin kein Außen mehr zu haben.

Dazu kommt jedoch immer die Frage: Wie finanziert man konkret die Arbeit an einem Buch, insbesondere dann, wenn es länger dauert, das Buch zu schreiben. Stefan Martinez habe ich mit 30 angefangen und war mit 38 fertig. Es hat also sehr, sehr lange gedauert, aus verschiedenen Gründen, sodass man so eine lange Zeit des Schreiben ohne zu veröffentlichen nicht nur finanziell, sondern auch psychoökonomisch erst bewältigen muss. Ganz abgesehen davon, dass Schreiben immer eingebettet ist in konkrete, das Schreiben unter Umständen beeinflussende historisch-politische und poetologische Prozesse.

Bei Stefan Martinez rechtfertigt sich - obwohl "rechtfertigt" vielleicht nicht das richtige Wort ist -, erklärt sich die lange Dauer der Arbeit nicht nur damit, dass der Roman sehr umfangreich ist und ich sehr lange nach einer Form gesucht habe, sondern damit, dass '89 die Mauer gefallen ist. Damals schrieb ich bereits über zwei Jahren an dem Buch, das dezidiert in West-Berlin spielen sollte, um anhand einer Biografie ein Soziotop aufzufächern, von dem mir dann sehr rasch klar wurde, wie schnell es sich auflösen würde. Ich habe mich dann dazu entschieden, noch einmal von vorne anzufangen. Nicht, um etwas anderes zu erzählen, sondern um die Geschichte weiter ausgreifen zu lassen. Gerade weil es von etwas so rasch Verschwindendem erzählte. Und dabei war es so, dass ich zum ersten Mal vollkommen absorbiert von der Arbeit an einem Buch war. Ich war in einem Buch völlig gefangen. Es war immer da. In Fragen und Gesprächen, in denen ich ständig darauf zurückgekommen bin. Zudem habe ich aber auch permanent Kopien gemacht und an verschiedenen Stellen deponiert.

Ich war tatsächlich gefangen - auf eine Art und Weise, in der es kein Außen mehr gab. Außer der Tatsache, dass ich zusehen musste, wie ich zu Geld kam. Meine Stipendienanträge wurden damals notorisch abgelehnt. In der ganzen Zeit habe ich gerade ein einziges Stipendium bekommen, das war vom Berliner Senat, ein halbes Jahr, ich weiß nicht mehr, was das damals war - 1200 Mark im Monat oder so. Und ich habe in Klagenfurt beim Bachmann-Wettbewerb einen Preis gewonnen, das waren 6000 Mark, das weiß ich noch sehr genau, das war nicht mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein. Aber immerhin, 6000 Mark waren 1992 - jetzt rede ich wie ein alter Sack - mehr wert als heute.

Prinz: Dennoch, mehr als ein Jahr finanzierte sich durch Stipendium und Preis vermutlich nicht, eher sogar weniger. Dennoch ist Stefan Martinez 1995 nach acht Jahren Arbeit erschienen. Ich nehme an, Sie haben regelmäßig andere Jobs gebraucht.

Peltzer: Ja. Ich habe nach einer kurzen Phase, in der ich am Institut für Forensische Psychiatrie gearbeitet habe - das habe ich dann gestoppt, weil ich dazu nicht weiter in der Lage war -, immer Jobs gemacht. Ich habe an der Kinokasse gearbeitet, ich habe in einer Konzertagentur gearbeitet und ich habe sehr lange als Filmvorführer gearbeitet - was für mich insofern eine ganz angenehme Tätigkeit war, als man allein arbeitete und zwischen dem Wechsel der Rollen genug Zeit hatte zu lesen. Das habe ich sehr lange gemacht.

Und dann kam, mit einer Beziehungskrise, der Punkt, wo ich dachte, so kann das eigentlich nicht weitergehen. Ich hatte schon fünf oder sechs Jahre an dem Buch geschrieben und es war eigentlich kein Ende abzusehen, kein Ende in dem Sinn, dass ich dem Verlag hätte sagen können, nächstes Jahr im Oktober ist es fertig. Dann habe ich eine Frau kennen gelernt, die in Westdeutschland wohnte und deren Verhältnis zur Ökonomie ein anderes war als meines. Und so dachte ich mir, jetzt brauche ich Geld und habe dann in der Zeit eine Annonce vom BDI, also dem Bund Deutscher Industrie, gesehen. Die suchten einen Psychologen für ein Projekt zu Lean-Management - das war damals der letzte heiße Scheiß beim BDI. Und ich habe einen akademischen Titel in Psychologie. Also habe ich meinen Lebenslauf dafür zurechtgebastelt. Denn der BDI wollte damals Betrieben "helfen" - wobei das eigentlich das falsche Wort ist -, bestimmte hierarchische Betriebsabläufe abzubauen.

Und immerhin hatte ich, außer eine Zeitlang am Institut für Forensische Psychiatrie zu arbeiten, einige Erfahrung mit den verschiedensten Mitbestimmungsformen in der Westberliner Subkultur. - Das war übrigens das erste und einzige Mal, dass ich mich in meinem Leben beworben habe. Ich gehöre ja noch zur Generation, die sich nicht bewirbt. Früher hat man einfach angerufen und gefragt: Ist irgendwo was frei? Während heute schon Erstsemester mit ellenlangen Lebensläufen ankommen. Die schreiben dann "... mit 14 Sprachkurs in der Normandie" - wo ich dann denke: Leute, ey, habt ihr eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Ich war mal drei Wochen in Paris, da waren die schon in London, New York und so weiter. Jedenfalls hatte ich mich beim BDI beworben, und in der Tat kriegte ich dann einen Brief, ich könnte zum - man sagt heute - Assessment-Center kommen. Also habe ich mir gedacht, okay, jetzt höre ich hier mit dem alten Muff, mit dem Schreiben und dem Kein-Geld-Haben auf, ich mache jetzt BDI; und bin nach Köln gefahren. Und das absurde war: zwei oder drei Wochen - ich weiß nicht, wie lange, vielleicht auch eine Woche - später kriegte ich von denen einen Brief, ich wäre einer von den drei Erfolgreichen gewesen und ich könnte jetzt bei Roland Berger (die kooperierten mit dem BDI) mit der Produktion von Lean-Management-Strukturen beginnen.

Gleich danach war die Frankfurter Buchmesse, und dort habe ich zu meinem Verleger gesagt: "Hör mal zu: Ich höre jetzt mit dem ganzen Kram auf, ich habe eine Freundin in Köln, ich mache jetzt BDI." Er hat nur gesagt: "Hast du eigentlich 'ne Macke? Bist du bescheuert?" Worauf ich ihm geantwortet habe: "Ich habe keine Kohle mehr! Ich habe auch keine Lust mehr, in dieses Scheißkino zu gehen und nachts Filme vorzuführen. Ich bin zu alt!" - Denn das ist körperlich wirklich anstrengend, wenn man im Vorführraum ist. Und das war ein Vorführraum, der mehrere Kinos bediente. Die Maschinen laufen, es ist warm und der Boden vibriert. Es war oft so, dass man merkte, wie der ganze Körper vibrierte, wenn die Maschinen ausgeschaltet waren und alles ruhig war. Da sagte er: "Okay, ich zahle mehr." Und dann hat er mir, das war eine unvorstellbar hohe Summe, 1500 Mark im Monat bezahlt, ein Jahr lang. Ich habe davon auch länger gelebt, weil ich brauchte nicht so viel. Mit dem Geld konnte ich das Buch fertigschreiben.

Prinz: Ende gut, alles gut - stimmt wohl gerade angesichts solcher Arbeit nur selten.

Peltzer: Ja, denn als das Buch fertig war, hatte ich Schulden. Obwohl ich für das Buch - das im Verkauf zwar ein relatives Desaster war ... nee, es war eigentlich ein ziemliches Desaster - zwei Preise gekriegt und davon die Schulden zurückgezahlt habe. Doch bereits Anfang 1995 war ich so pleite, dass ich nicht mehr zum Friseur gegangen bin. Ich brauche ja relativ lange, bis in meinem Kopf ein Buch so weit ist, dass ich wirklich einen Roman schreiben kann. (...) Heute ist die Situation für mich besser. Zumindest so weit, um mir, wenn es notwendig ist, zu sagen, ich mache jetzt zwei Wochen nichts, oder zwei Monate, und denke nach. Das geht tatsächlich ohne die Panik von früher. Dennoch, die Frage, was wäre, wenn ich von heute auf morgen kein Geld mehr hätte, ist immer noch real. Was wäre, wenn ich also vor derselben Situation stünde wie 1993: Würde ich aufhören zu schreiben, würde ich ... BDI geht ja nicht mehr, ich bin zu alt. - Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. Nein, natürlich würde ich weiterschreiben, aber trotzdem. (ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 20./21.03.2010)