Giuliano Amato, ehemals Premier und Vizepräsident des EU-Verfassungskonvents.

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Er bricht eine Lanze für eine gemeinsame Immigrationspolitik. Mit ihm sprach Christoph Prantner.

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STANDARD: Die Implementierung des Lissabon-Vertrags bereitet der EU derzeit einige Schwierigkeiten. Wie bewerten Sie die Lage?

Amato: Es ist noch zu früh, um Wertungen zu machen. Die europäischen Zeiträume sind sehr lang, da muss man schon noch etwas zuwarten. Ich hätte sicherlich einige andere Namen ins Spiel bringen können für jene zwei berühmten Posten, die Lissabon neu geschaffen hat. Aber wer immer jetzt den neuen Job hat, soll erst beurteilt werden, wenn Zeit gewesen ist, das Amt auch auszuüben. Manchmal gibt es da durchaus unerwartete Überraschungen. Das größte Problem, das ich derzeit sehe, ist das äußerst starke nationalstaatliche Auftreten diverser Mitgliedsländer. Darunter ist leider auch Deutschland, das immer der wahre Integrationsmotor war.

STANDARD: Woher rührt diese neue Renationalisierung?

Amato: Mit Sicherheit aus den jeweiligen Innenpolitiken der Mitglieder und auch aus den Befürchtungen der Bürger. Die europäische Stimmung ist derzeit viel unglücklicher, als sie es zuletzt war. Europa ist die einzige Weltgegend, in der es so große Zukunftsangst gibt. Diese Renationalisierung der Politiken bringt die europäische Architektur zwar nicht zum Einsturz, aber sie kann die Stärkung Europas und neue Erweiterungsschritte deutlich behindern.

STANDARD: Ist das durch die Stärkung der Position der Staats- und Regierungschefs im Lissabon-Vertrag nicht quasi eingebaut?

Amato: Nicht im Vertrag, aber in den Protokollen und den Erklärungen dazu. Es gibt im Vertrag viele Integrationsfeatures und Brücken zwischen dem vergemeinschafteten Europa und jenem der Regierungen, wie etwa den permanenten Präsidenten des Rates und die EU-Außenbeauftragte. Aber es ist wahr, schon im Moment der Unterschrift des Vertrages erklärten die Staaten: "Lissabon ist wunderbar, aber ..." Das zeigt eine evidente Disparität zwischen den Instrumenten, die wir uns gegeben haben, und den Gebrauch, den wir davon machen wollen. Trotz Lissabon, das den Raum für ein integrierteres Europa schafft, tendieren die Nationalstaaten dazu, ein Europa der Regierungen daraus zu machen. Herman van Rompuy und Catherine Ashton sind mit Sicherheit auch deswegen in ihre Funktionen gekommen, weil man erwartet, dass sie das nicht unterbinden können.

STANDARD: Eines der drängendsten Probleme, das einer europäischen Lösung bedürfte, ist die Immigration. Die derzeitige spanische Präsidentschaft hat versucht, hier etwas voranzubringen. Mit wenig Erfolg.

Amato: Die Spanier versuchen das zu pushen, weil sie europäische Unterstützung für die Beschränkung des Zuzugs und ihre Abschiebungspraxis wollen. Das, und nicht mehr die Integration oder die Zusammenarbeit mit Drittstaaten, scheint heute der wichtigste politische Ansatz zu sein. Dieser überlässt die Immigrationspolitik den jeweils einzelnen Staaten und zuletzt den lokalen Körperschaften, die sich letztlich damit auseinandersetzen.

STANDARD: Heißt das, die Chancen einer klar geregelten Immigration, wie sie etwa Kanada zulässt, werden in Europa nicht erkannt?

Amato: Es gibt einen profunden Unterschied zwischen Europa und Kanada oder den USA. Europäische Staaten sind wie Baumstämme, jeder Ast, der von außen aufgesetzt wird, muss sich mit diesem bestehenden Stamm erst vereinigen. In Kanada gab es diesen Stamm nicht, er wurde aus vielen Ästen gebildet. Diese Situation macht den Zufluss von anderen in Europa schwieriger. Wir müssen uns klarmachen, dass wir Zuwanderung haben, und uns fragen, welchen Sinn diese machen soll.

Wir tendieren heute dazu, zu glauben, dass wir vor allem qualifizierte Kräfte zuwandern lassen sollten. Das ist in Ordnung, bedeutet aber auch, dass wir die Augen vor jenen Hunderttausenden verschließen, die nach Europa kommen, weil sie keine Perspektiven in ihrem Land haben. Der marokkanische Bauer kommt nach Italien, wenn die Sahara sein Land verschluckt. Er wandert aus, weil ihn nichts mehr hält. Und wenn er nicht legal nach Europa kommt, dann kommt er illegal. Das Problem der Einwanderung, die aus Armut entsteht, müssen wir uns vor Augen halten. Unsere Aufgabe ist es, die neuen Äste anwachsen zu lassen.

STANDARD: In Italien wie in Österreich gibt es aber Populisten, die sich große Mühe geben, die Äste abzuschneiden - und viele Bürger applaudieren ihnen dabei.

Amato: Die Politik hat zwei Optionen: Sie kann das Problem zu lösen versuchen oder damit Stimmen fangen. Letzteres ist sehr einfach, aber es führt nirgendwohin - außer in große Konflikte. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.3.2010)