Bei den Redemptoristen gibt es jeden Tag ein warmes Frühstück.

Foto: derStandard.at/Blei

Frau Barbara betreut seit sieben Jahren die obdachlosen Gäste.

Foto: derStandard.at/Blei

In der altkatholischen Pfarre St. Salvator öffnet einmal pro Woche die Suppenküche.

Foto: derStandard.at/Blei

Unter anderem kocht dann Hedi für die Bedürftigen.

Foto: derStandard.at/Blei

Die Gäste haben ihren Kochkünsten schon dreieinhalb Hauben verliehen (eine wurde offenbar schon entwendet).

Foto: derStandard.at/Blei

Im "'s Häferl" sind alle willkommen, die am Rande der Gesellschaft stehen.

Foto: derStandard.at/Blei

Ab zwei Uhr gibt es dreimal die Woche ein warmes Essen.

Foto: derStandard.at/Blei

Bei der Caritas der Pfarre Breitensee kümmert sich Gabi um die Schuhausgabe.

Foto: derStandard.at/Blei

Thomas ist heute in der Küche für das Wärmen der Speisen verantwortlich.

Foto: derStandard.at/Blei

"Es sind jetzt sechs Jahre." Seit dem 26. April 2004 lebt Ferdinand auf der Straße, er ist obdachlos. Trotzdem hat er keine Scheu offen darüber zu sprechen, nur seine komplette Identität möchte der 53-Jährige nicht preisgeben.  "Ich habe die Hoffnung eben noch nicht aufgegeben, dass ich irgendwann einmal wieder ein normales Leben führen kann." Seinen Tag beginnt Ferdinand in der Salvatorgasse 12, bei den Redemptoristen im Kloster. Doch nicht um zu beten, sondern um sich sein tägliches Frühstück zu besorgen: eine warme Mahlzeit und Brote für unterwegs.

"In Wien muss niemand hungern"

Seit mehr als vierzig Jahren schon öffnet sich jeden Tag um zehn Uhr die grüne Tür der Klosterpforte und seit sieben Jahren ist es Frau Barbara die aufsperrt. Gut und gern dreißig Leute mit wenig oder gar keinen Mitteln nehmen dann im Vorraum Platz und bekommen Gebäck und Wurst, die von einer Bäckerei und einer Fleischerei im ersten Bezirk gesponsert werden. Die meisten sind obdachlos, suchen aber neben der kostenlosen Mahlzeit auch eine Möglichkeit für ein Gespräch. Ferdinand wird, als er zur Tür hereinkommt, von den meisten begrüßt. "In Wien muss niemand hungern", ist sich der große Mann mit den schwarzen Haaren, die schon ein wenig grau geworden sind, sicher und verlässt das Kloster mit einem vollen Sackerl, nur um ein paar Häuser weiter wieder in einem Torbogen zu verschwinden.

Dreieinhalb Hauben für Suppenküche

Es ist die Adresse Salvatorgasse 5, die Pfarrgemeinde St. Salvator der altkatholischen Kirche. Jeden Mittwoch, seit fast drei Jahren, steht ein Team von fünf Frauen am Suppentopf und verköstigt bedürftige Leute, finanziert aus Spenden und einem Teil des Pfarrbudgets. "Das ist die beste Suppe von ganz Wien", schwärmt Ferdinand unter anderem von den Kochkünsten "Hedis", die heute für die Gemüsesuppe verantwortlich ist. Deshalb hätte er auch, mit seinem Freund Ludwig und einem weiteren Bekannten, der Suppenküche "Dreieinhalb Hauben und den goldenen Kochlöffel am blauen Band" verliehen. Die Auszeichnung hängt im Vorraum zum Esszimmer und besteht aus dreieinhalb Wollhauben und dem passenden Kochlöffel.

"Nie Alkohol getrunken"

Die Damen plaudern mit Ferdinand wie mit einem alten Bekannten und er erzählt, dass er mittlerweile durch einen Freund eine kleine Wohnung nutzen kann: "Seit einem knappen Monat schon habe ich ein Dach über dem Kopf, und sogar einen Fernseher." Den hätte er aber in der Zeit nur zweimal kurz aufgedreht: "Ich gehe eben lieber in den Park und lese ein Buch, das bin ich so gewohnt." Ferdinand hat in seiner Tasche immer mindestens ein Buch eingepackt und vertreibt sich mit Lesen den Tag. Das käme ihm sinnvoller vor, als wie andere Obdachlose, seine Probleme mit Alkohol zu ertränken: "Ich habe keinen Tropfen Alkohol getrunken, seit ich auf der Straße lebe." Und Probleme hat der 53-Jährige genug: Obwohl er einen Nachweis vom AMS in der Tasche hat, der ihn als "nicht vermittelbar" bezeichnet, bekommt er vom Staat keine Sozialhilfe. Ein Verfahren sei aber schon seit 2005 anhängig. "Bis dahin komme ich mit zirka 10 Euro in der Woche aus." Geld, das sich Ferdinand durch Gelegenheitsjobs verdient.

"Es war meine Schuld"

Nachdem Ferdinand die Suppenküche verlassen hat, zeigt er Einrichtungen der Franziskaner und Dominikaner, die auch eine Mahlzeit für Bedürftige austeilen. Auf dem Weg durch den ersten Bezirk spricht der Obdachlose dann auch zum ersten Mal über den Grund seiner Lage: "Hochmut und reine Selbstüberschätzung". Er wäre selbst Schuld gewesen und hätte durch einen großen Fehler sein ganzes Vermögen verloren, früher wäre er ein erfolgreicher Geschäftsmann mit eigenem Unternehmen gewesen. "Ich suche bei niemand anderem die Schuld aber ich glaube, dass ich trotzdem eine zweite Chance verdient hätte", sagt Ferdinand. Als er über den Stubenring spaziert, zeigt er nach rechts auf den Stadtpark: "Dort, in dem öffentlichen WC habe ich meinen ersten Toten gefunden." Es sei ein junger Mann gewesen, der offenbar an einer Überdosis Drogen gestorben war: "Die Spritze ist noch in seinem Arm gesteckt", erzählt Ferdinand.

Handel mit Substitol auf der Straße

Auch er hätte bereits Angebote bekommen, Drogen zu verkaufen. "Man hat mir gesagt, dass ich damit bis zu 1000 Euro im Monat verdienen könnte, aber solche Sachen sind mir zu heiß", sagt Ferdinand und berichtet von Fehlern im öffentlich finanzierten Therapiesystem: "Man hat mir gesagt, ich soll nur eine Tablette nehmen und dann zu einem bekannten Arzt gehen, der würde mich dann in einen Becher pinkeln lassen und ins Substitol-Programm aufnehmen." Die Ersatzdrogen solle er dann einfach nicht schlucken, sondern weiterverkaufen. "Das wird immer wieder so gemacht", weiß der Obdachlose.

"Zuerst schlägst du zu"

Als er schließlich über die Brücke neben dem Stadtpark geht, berichtet er von seinem ersten Schlafplatz am Donaukanal: "Dick eingewickelt in meinen Schlafsack, war ich aufs Überleben fixiert." Wenn man auf der Straße lebt, würde man anders schlafen: "Man schläft immer mit einem offenen Auge." Selbst die Polizisten hätten gewusst, dass man sich ihm nicht ohne weiters nähern dürfe, wenn er schläft: "Zuerst schlägst du zu und erst danach fragst du", sagt Ferdinand. Im dritten Bezirk angekommen, gibt sich der große Mann mit dem Oberlippenbart in Ruhe einem seiner wenigen Laster hin: dem Kaffeetrinken.

Kein Kontakt zu den Eltern

Bei einer Melange erzählt er dann auch von seiner Kindheit: "Meine Eltern habe ich das letzte Mal gesehen, als sie mich mit sechs Jahren im Kloster abgegeben haben." Insgesamt 12 Jahre verbrachte Ferdinand dann im Stift Göttweig in Niederösterreich und ging dort auch zur Schule. "Mit 16 Jahren habe ich dann erfahren, dass der Abt mein Vormund ist und mit 18 habe ich mich schließlich vom Gericht für volljährig erklären lassen", berichtet der 53-Jährige. Damals lag die Altersgrenze noch bei 21 Jahren. Nach seinen Eltern habe er danach nie wieder gefragt: "Ich hab jedes Weihnachten gewartet, dass mich jemand abholt, aber es ist niemand gekommen."

Keine Beziehung auf der Straße

Unterstützung durch die Familie hätte Ferdinand demnach auch nie bekommen, seit 1983 ist er von seiner Frau geschieden und Kinder hätte es keine gegeben. Über Beziehungen auf der Straße hätte er sich auch nie Gedanken gemacht: "Mit einer Frau aus der Obdachlosenszene kam es für mich sowieso nicht in Frage und bei anderen Frauen hätte ich immer das Gefühl, dass ich mich aushalten lassen würde." Deshalb würde er mit dem Thema auch noch solange warten, bis er eine feste Wohnung und einen fixen Job hätte. "Obwohl mein Leben öffentlich ist, und mich jeder in allen Lebenslagen beobachten kann, bin ich sicher der einsamste Mensch von Wien", sagt Ferdinand und blickt immer wieder nach unten.

"Niemand muss in Wien stinken"

Der nächste Aufenthalt des Mannes liegt gleich um die Ecke des Cafés, bei den Elisabethinen. Dort wird jeden Tag von 13.30 - 13.45 Uhr das "Elisabethbrot" geöffnet, wo Kleidung und Essen ausgegeben werden. Schon eine Stunde bevor sich die Türen für die Bedürftigen öffnen, wartet eine Schlange von Menschen vor dem Gebäude: "Da ist immer viel los", sagt Ferdinand und dreht sich, nach einem Blick in die Tür, wieder um. Welcher Luxus aus seinem früheren Leben ihm heute am meisten fehlt? "Die tägliche Dusche", ist die schnelle Antwort des Obdachlosen und er lacht. "Obwohl in Wien muss keiner auf der Straße stinken. Wenn du den Sozialpass bekommst, dann kannst du in den öffentlichen Bädern gratis duschen und ich schaff es auch einmal in der Woche mich zu reinigen, ohne den Pass", erzählt er und steigt die Treppen zur U4 hinunter. Dabei fühlt er sich nicht immer wohl, weil er große Menschenansammlungen noch immer meidet: "Ich habe Angst, dass mich jemand von früher erkennt und ich Erklärungsbedarf habe."

"Mit Ehrlichkeit fährt man am besten"

Einen Fahrschein für die öffentlichen Verkehrsmittel kann sich Ferdinand nicht leisten. Er sagt aber, dass "90 Prozent aller Kontrolleure verständnisvoll sind, wenn man ehrlich sagt, dass man obdachlos ist". Nur einmal hätte er eine Strafe bekommen und sei dann mit dem Zahlschein nach Erdberg in das Kundenzentrum der Wiener Linien gefahren. "Dort habe ich dann angeboten, meine Strafe abzuarbeiten und dem Angestellten dort gesagt, dass ich zurzeit noch am Donaukanal logiere", erzählt Ferdinand von seinem Erlebnis. Der Mitarbeiter der Wiener Linien hätte den Zettel dann genommen, zerrissen und gesagt: "Das hat sich schon erledigt" dann hätte er Ferdinand noch zehn Fahrkarten geschenkt. "Wenn man ehrlich ist, fährt man noch immer am besten", ist er sich sicher.

"s' Häferl" als Zufluchtsort

Ab zwei Uhr trifft man Ferdinand dann meistens im sechsten Bezirk, in der Horbostelgasse, dort wo "'s Häferl" ist. "'S Häferl" ist eine Einrichtung der Stadtdiakonie Wien und wird unter anderem von der evangelischen Kirche unterstützt, die etwa die Räumlichkeiten, eine Unterkirche, zur Verfügung stellt. Auch das Justizministerium subventioniert die Einrichtung. Eigentlich war die Stelle als eine Art von Selbsthilfegruppe für Haftentlassene und Freigänger konzipiert, doch bekommen alle bedürftigen Menschen ein kostenloses Essen, das sogar durch die Mitarbeiter serviert wird. "Wir teilen im Schnitt 74 Essen pro Tag aus", erzählt Leiter Norbert Karvanek. Dabei ist er vor allem stolz darauf, dass bei ihm eine Vielzahl unterschiedlicher Leute jeden Mittwoch, Samstag und Sonntag an den Tischen Platz nimmt und aus den Gästen eine kleine Gemeinschaft geworden ist.

Bei einem Kaffee im "'s Häferl" berichtet Ferdinand auch von seiner Kulturleidenschaft: "Jedes Mal, wenn ich drei Euro beisammen habe, schaue ich, dass ich Stehplatzkarten für das Burgtheater oder die Staatsoper bekomme." Außerdem sei für ihn am Wochenende "Presseschau": "Denn nur dann habe auch ich die Möglichkeit an Qualitätszeitungen zu kommen, unter der Woche muss ich mich mit heute und Österreich begnügen."

Mit Freunden zu Tisch

Nach einem kurzen Fußmarsch und ein paar Stationen mit der Straßenbahn, steht der letzte Stopp des Tages auf dem Plan: die Caritas-Einrichtung Breitensee, die jeden Montag, Mittwoch und Freitag ab 15:00 Uhr geöffnet hat. Es ist die einzige Einrichtung, die Ferdinand nützt, die von der Gemeinde Wien unterstützt wird. Weil er keine Sozialhilfe bekommt und nicht an das System des Sozialfonds glaubt, meidet er solche Stellen prinzipiell. Hier trifft er aber täglich seinen besten Freund, seit er auf der Straße lebt: Ludwig. Der ältere Herr, der aufgrund einer Krankheit, in Frühpension ist, teilt mit Ferdinand Sorgen und auch Freuden. Gemeinsam mit Johann, der auch obdachlos ist, wird am Tisch in der Ecke gelacht und von früheren Zeiten gesprochen, über ehemalige Reisen und das Leben vor der Obdachlosigkeit.

Kleiderausgabe und Verköstigung

In der Caritas-Küche herrscht derweil reges Treiben: Thomas, Gabi und Ernst, die heute für die Gäste zuständig sind, wärmen Leberknödelsuppe und Hendlhaxen mit Pommes. Das Essen wird von der privaten Volksschule Josephinum geliefert und besteht aus den Resten des Mittagessens der Schüler. Alles wird noch am selben Tag verarbeitet und sollte noch etwas überbleiben, dürfen es sich die Obdachlosen auch mitnehmen. Seit 35 Jahren schon gibt es die Institution und jeden Tag kommen um die 30 Bedürftigen zum Essen. Am Mittwoch gibt es außerdem noch die Kleiderausgabe und Gabi öffnet Schränke und Kommoden.

"Ich laufe im Kreis"

Wieder zurück am Tisch, wurde der Hauptgang schon serviert und Ferdinand packt seinen Pfeffer- und Salzstreuer aus: "Das Essen von der Schule ist immer so mild." Nach ein paar Bissen vom Hendl gibt er dann auch sein Lebensmotto preis: "Ich stell mir immer vor, dass ich im Kreis laufe und es einen Ausgang gibt, ich ihn aber noch nicht gefunden habe. Bis dahin laufe ich immer wieder daran vorbei, bis ich einmal dagegen renne." Und das wird Ferdinand auch am nächsten Tag wieder tun, wenn er zum Frühstücken ins Kloster der Redemptionisten in der Salvatorgasse 12 geht, wie jeden Tag. (Bianca Blei/derStandard.at/27.4.2010)