Namenlose Statuen vor Antwerpens gerade entstehendem Auswanderermuseum. Durch das Felix-Archiv haben bereits viele belgische Emigranten wieder einen Namen bekommen.

Foto: Aumüller

Die Rolling Stones, dachte sich Dominique Persoone, haben bestimmt die Nase voll von halblustigen Geburtstagsfeiern. So tanzte er, der belgische Chocolatier, vor drei Jahren einfach an im Brüsseler Conrad Hotel und brachte etwas mit für die Nasen von Ron Wood und Charlie Watts: Mit seinem „Schoko-Shooter" kann Persoone feinste Kakaoaromen zum Schnupfen verdichten, diese per Knopfdruck durch die Nase ins _zerebrale Geruchszentrum befördern und also auch Rocklegenden einen lustigen Geburtstag bescheren. Das klingt leicht überzogen? Überzogen mit einer Schokoglasur hatte Persoone bereits ein Jahr davor eine Installation von Spencer Tunick - also jene nackten Menschen, die der amerikanische Fotograf 2006 in Brügge vor dem Konzertsaal drapierte.

Wen Belgiens bekanntester Schokolade-Entertainer nun mit seiner brandneuen Boutique in Antwerpen erreichen will, scheint irgendwie klar: Auch eine gut - oder wenigstens überhaupt - gekleidete Laufkundschaft möchte sich hie und da das Leben versüßen lassen vom kochenden Enfant terrible, das sich selbst gerne als „Schock-o-Latier" bezeichnet.

Napoleonische Chanel-Kulisse

Dafür zog Persoone bereits vor der offiziellen Wiedereröffnung am 8. Mai 2010 in eines der prachtvollsten Palais dieser Stadt. Seine Showküche, das Atelier und die Pralinenvitrine vor Originalgemälden aus dem 18. Jahrhundert ist heute in jenen Räumen untergebracht, die Napoleon Bonaparte 1811 für den Eigenbedarf erwarb. Nach einem langen Schattendasein als baufällige Struktur, die Chanel immerhin zur betont heruntergekommen Kulisse für Modeshootings gereichte, wurde das „Paleis op de Meir" in den letzten neun Jahren restauriert.

Nur die Bedeutung seines Namens lässt sich heute nicht mehr ganz so einfach rekonstruieren: So heißt „op de Meir" in der Übersetzung zwar tatsächlich „am Meer", von einem solchen ist in der gleichnamigen, innerstädtischen Einkaufsstraße aber weit und breit nichts zu sehen. Die Auflösung: Als Meer bezeichneten die Flamen immer jenen Platz einer Stadt, auf dem Holz für den Möbelbau nassgehalten wurde.

Auch wenn Persoones Schoko-Shop neben den Boutiquen jener sechs Modeschöpfer, die unter dem Namen „The Antwerpen Six" Weltruhm erlangten, ein ebenso touristisch sicherer Hafen ist - es werden durch den verwirrenden Namen des Palais doch jene Schwierigkeiten deutlich, die Antwerpen als alte Stadt der Seefahrer so hat: Sie liegt gar nicht am Meer, sondern nur an einem gut schiffbaren Fluss und beheimatet dennoch nach Rotterdam den zweitgrößten Hafen Europas. Aber wirklich genießen in den letzten Jahrzehnten konnten nicht einmal die Antwerpener jenes Flair, das so ein Hafen normalerweise besitzt.

Das riesige Het-Eilandje-Gebiet an der Schelde ist seit seiner Blütezeit im 16. Jahrhundert mindestens genauso links (und rechts der Schelde) liegen gelassen worden wie das vermeintlich am Meer liegende Palais. Der Antwerpener Modedesigner Dries van Noten war einer der Ersten, die den Charme heruntergekommener Lagerhallen für sich entdeckten. Hier richte er sich das eigene Atelier ein, und hinter der strengen Fassade des „Godfried"-Gebäudes versteckte er Showrooms. Seitdem kann man sich aber sogar an Napoleon wieder orientieren, der den inneren Bereich dieses Hafens zu Beginn des 19. Jahrhunderts bauen ließ: Rund um das Bonaparte-Dock tut sich was.

2006 wurde hier - oder genauer gesagt am Willhelms- Dock gleich daneben - das Felix-Archiv eingeweiht. Im rundum erneuerten Sint-Felix-Lagerhaus, ist heute eine digitale Bibliothek untergebracht, die ein besonders bedeutsames Erbe Antwerpens verwahrt: die Schicksale und Biografien jener 137.000 Belgier, die zwischen 1871 und 1930 von hier mit dem Schiff über den Atlantik emigrierten. Der außen backsteinrote und innen blütenweiße Bau mit rostigen Lastenaufzügen, erzählt denn auch von der Last, die der Abschied für die Emigranten und die Zurückgelassenen bedeutete - Letztere können dort nach oftmals verwischten Spuren von Verwandten suchen. Umso erstaunlicher wirkt es dann, dass „Kinder von Traurigkeit" im Erdgeschoß desselben Gebäudes ein wenig Fehl am Platz erscheinen - hier entstehen gerade stylishe Clubs, die etabliertere im Zuidviertel bald schon wieder übertrumpft haben werden.

Zugereiste und Auswanderer

Für Zugereiste mag die Geschichte der Emigration und jene der Red Star Line anhand von sehr persönlichen Biografien nur schwer greifbar sein. Deshalb bekommt diese belgisch-amerikanische Schifffahrtsgesellschaft, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst wurde, in rund einem Jahr hier auch ein eigenes Haus. Die damalige Reederei für „People on the move" - so wird jedenfalls auch das neue Museum heißen - wurde in Antwerpen gegründet und hat über die Jahrzehnte wertvolle Dokumente der Migration gesammelt. Zwischen einer Reihe von Statuen, die an allen vier Enden des Hafenbeckens meist namenlos für die Auswanderer stehen, ist die Stein-Glas-Konstruktion des Museums schon jetzt gut erkennbar. Ohne Zweifel wird sie zu einer monumentalen Stütze für das Gedächtnis einer Stadt, die auch die ursprünglichen Gebäude der Reederei gerade wieder auf Vordermann bringt.

Die Red Star Line hat ihrerseits das gesamte Gelände geprägt: Das alte Pumpenhaus der ehemals größten Schleuse Europas wurde vor allem für deren Schiffe gebaut. Heute ist es ein erstklassiges Restaurant, die denkmalgeschützte Wartehalle für Passagiere der Gesellschaft wird gerade zu einer schicken Galerie umfunktioniert. Rund um diese Strukturen scheint sich die Landschaft aus Bars, Edelwirten und Luxuslofts momentan im Monatsrhythmus zu wandeln.

Unmittelbar hinter dem Bonaparte-Dock werden noch immer Subkultur-Hungrige bedient: Ins „Gasthaus zum schlechten Gewissen" gingen wohl früher tatsächlich die Häfenbrüder - zum Glück haben die Antwerpener dennoch nicht vergessen, dass zu einem Hafen eben auch auch Spelunken gehören. Wer in diesem nunmehr harmlosen Wirtshaus versumpert, findet zwischen den Yachten sogar noch Kajüten auf schwimmenden Frühstückspensionen wie der Marjorie. Der modernisierte Hafen rückt aber unaufhaltsam näher an eine Altstadt, die auch räumlich nie fern war.

Durch seine erhaben noble Architektur verstand sich der Große Markt aber lange Zeit darauf, Distanz zu halten zum Leben an der Schelde, das jetzt seine Schokoladenseite zeigt. (Sascha Aumüller/DER STANDARD/Album/Printausgabe, 24./25./4.2010)